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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Glitzernde Verdorbenheit

Ein außergewöhnlicher All-Age-Roman, der Anti-Pop mit düsterer Poesie vermählt.
Hamburg

„Zu viel von allem war noch lange nicht genug“, ist eine von Judes Devisen, die in Raziel Reids traurig-schönem Debütroman „Movie Star“ den Ton angeben. Aber ist „traurig-schön“ überhaupt der richtige Ausdruck? „Schonungslos und abgefuckt“ träfe es auch, und bei Reid ist das merkwürdigerweise kein Widerspruch. „Weinen bringt gar nichts, es lässt einen nur aussehen wie eine noch billigere Nutte“, ist noch so eine von Judes (Über-)Lebensregeln. Und zu guter Letzt: „Wenn man nichts hat, hat man Träume.“

Und die braucht der offen schwule, feminin auftretende Teenager Jude – von seinen Mitschüler_innen nur „Judy“ genannt – definitiv. Er wächst auf in einer gesichtslosen Kleinstadt irgendwo in der kanadischen oder US-amerikanischen Provinz, in der gefühlt das ganze Jahr lang Winter herrscht. Diese Kälte frisst sich durch die Seiten, legt sich als existenzielle Abgestumpftheit um die Knochen der Protagonist_innen und in Form von bitterstem Sarkasmus auf ihre Zungen.

Judes Mutter arbeitet als Stripperin und nimmt als einzige die Queerness ihres Sprösslings relativ gelassen hin. Doch beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass auch sie in einer Art Fantasiewelt lebt, und vielleicht gerade darum nichts gegen seine extravagante Fantasien einzuwenden hat, in denen sich zum Beispiel die rumpelige Wohnung in das Penthouse eines Luxushotels in Las Vegas verwandelt. Von ihrem Lebensgefährten Ray, der Judes biologischem Vater in Sachen Gewalttätigkeit in nichts nachsteht, lässt sie sich klaglos herumschubsen und ausnutzen. Genau wie Jude erträgt sie all das nur, so lange sie sich einreden kann, dass jederzeit jemand „Cut!“ rufen und sie aus diesem trashigen Streifen, in den sie irgendwie hineingeraten ist, in ein glamouröseres Leben holen könnte.

Judes jähzorniger Dad taucht alle Jubeljahre einmal auf, und in den Zeiten dazwischen bleibt Jude genug Gelegenheit, um ihn zum unerreichbaren Traummann zu stilisieren. Liebe und Gewalt sind für ihn seit frühester Kindheit zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Vielleicht auch deshalb provoziert er in der Schule so gerne mit weißen Plateaustiefeln, pinkem Lippenstift und anzüglichen Kommentaren. Er weiß genau, wie er bestmöglich den Zorn seiner homophoben Mitschüler_innen auf sich ziehen kann, und das bereitet ihm eine verdrehte Art von Genugtuung. Denn „der Hass, mit dem sie mir begegneten, war für mich die Liebe, die ich nie von ihnen erfahren würde“.

So ist für Jude jeder Morgen, an dem er sich verkatert in die High School schleppt, nur ein weiterer Drehtag: Der Schulflur ist der rote Teppich, die Lehrerschaft ein Haufen Statisten. Jeder erfüllt seine ihm zugedachte Funktion, und Jude „blieb nur eine Rolle: die Tunte, deren Scheiterhaufen das Set in Brand setzte“. Einzig seine beste Freundin Angela und sein Schwarm Luke stechen aus der Masse, obwohl – oder vielleicht gerade weil – auch er Jude mit Verachtung straft. Die abgeklärte Weisheit, mit der Jude seine Sehnsucht beschreibt, von Luke verprügelt zu werden, einfach, damit er endlich einmal die Berührung seines Angebeteten erfährt, kann einem kalte Schauer über den Rücken jagen. Ganz ohne Pathos gelingt es Reid, die morbide Ambivalenz dieser Begehrensstruktur einzufangen. Bis wir sie verstehen und nachfühlen können – und vielleicht sind es gerade diese Momente, die uns beim Lesen immer wieder kurz erschaudern lassen.

Mit Angela verbindet Jude nicht viel mehr, als dass auch sie nur dann glücklich ist, „wenn hinter einem Hashtag eine Gemeinheit über sie stand.“ Und vielleicht noch die Tatsache, dass sie ständig an Sex denkt. Wobei sie es, im Gegensatz zu Jude, tatsächlich bereits mit so ziemlich jedem Jungen in der Stadt getrieben hat, deren Namen sie akribisch unter der Tischplatte ihres Stammplatzes im Fast-Food-Schuppen Day-n-Nite verzeichnet. Dort hängen die beiden zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten ab. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, die Hausapotheke von Angelas Mutter durchzugehen und sich mit allem Erreichbaren zuzudröhnen. Denn eigentlich geht es die ganze Zeit nur darum: Sich so weit wie möglich vom Hier und Jetzt zu entfernen. Immer wieder schlägt Jude die Hacken seiner aus dem Theaterfundus der Schule geklauten Pumps zusammen und hofft auf einen Rückwärtszauber, der ihn nicht fort von Oz, sondern im Gegenteil von seinem verhassten Zuhause wegbringt. Und weil dieser Trick partout nicht funktionieren will, spart er heimlich auf ein Busticket nach Hollywood.

Als Angela schließlich doch von Judes Plänen erfährt, droht die Freundschaft zu zerbrechen. Oder kann man überhaupt von einer „Freundschaft“ sprechen? Tatsächlich scheint sich Angela kaum für Judes Belange zu interessieren. Oder für überhaupt irgendjemanden, außer sich selbst. „Angela fiel eigentlich gar nichts auf, außer wenn ihre Tage nicht pünktlich einsetzten – und wie viele Likes sie auf Facebook bekam“, stellt Jude lakonisch fest. Die einzigen Wesen, an denen er wirklich hängt, sind seine Katze Stoned Hairspray und sein kleiner Bruder Keefe. Auch von diesem allerdings wurde er schmerzlich getrennt, seit Ray entschieden hat, seinen leiblichen Sohn vor Judes „glitzernder Verdorbenheit“ zu schützen und die aufmüpfige Diva in den Keller zu verbannen.

Halb so schlimm – in Judes Fantasie verwandelt sich der Keller in eine „angesagte Entzugsklinik“. Seine Fähigkeit, noch über die düstersten Szenen ein wenig Glitzer zu streuen, ist so verstörend wie faszinierend. Und Reid zieht diesen Eskapismus, über dessen Auswüchse man manchmal lachen, manchmal schlucken muss, mit bewundernswerter Konsequenz durch.

Selbst den dunkelsten Momenten ringt der Erzähler eine Poesie von betörender Schönheit ab. Mehr als einmal wird Jude angegriffen, verprügelt, mit einem Skateboard niedergeschlagen oder durch die halbe Stadt gejagt. „Ich rannte um mein Leben, aber in meiner Fantasie tanzte ich, als sei ich heute Nacht noch zu haben“, wird daraus bei Jude. Wenn wieder einmal Blut fließt, interessiert ihn einzig, in welchen Mustern es sein Gesicht hinab rinnt. Schließlich muss die Bildsprache stimmen. Und als bei einem der zahllosen Übergriffe auf dem Schulklo der Spiegel zu Bruch geht, heißt es: „Das Glas zerbrach und fiel zu Boden wie rausgeschnittene Szenen.“

Es war nicht zuletzt Reids meisterhafter Umgang mit Sprache, der „Movie Star“ 2014 den renommierten Governor General's Literary Award in der Kategorie „Jugendbuch“ einbrachte. Zeitgleich sorgten die expliziten Sex- und Gewaltszenen für kontroverse Diskussionen in der kanadischen Presse. Kann man solch ein Buch Jugendlichen zumuten?

Ich denke, mal kann und sollte. Auf so gut wie jedem Schulhof bezeichnen sich 15-Jährige gegenseitig als „Schwuchtel“, „du  Opfer“ oder „du Schlampe“. Das ist nun mal die soziale Realität – warum sollte man diese nicht auch literarisch abbilden?

Zudem beruht auch das gewaltvolle Ende, auf das „Movie Star“ unweigerlich zusteuert, auf wahren Begebenheiten: Der Geschichte von Larry King, der im Jahr 2008 von einem Klassenkameraden erschossen wurde, nachdem er diesen gefragt hatte, ob er mit ihm zum Valentinsball geht. Zum Zeitpunkt seines Todes war King 15 Jahre alt.

Auch das ist ein Stück Realität. Und Reids großes Verdienst, Jude nicht als Heiligen zu verklären, sondern einen mal liebenswerten, mal narzisstischen, mal anlehnungsbedürftigen, mal anmaßenden Helden zu erschaffen, der letztendlich Opfer seines homophoben Umfelds wird.

 

 

Raziel Reid
Movie Star
Übersetzung: Peter Peschke
Albino
2016 · 224 · 19,99 Euro
ISBN:
9783959850827

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