Die Rückkehr der Körper in die Gedichte
Einen merkwürdig anmutenden Titel: „Körper: Ein Handbuch“, trägt der erste Gedichtband, der von Ricardo Domeneck in deutscher Übersetzung vorliegt. Es ist sein insgesamt sechster Gedichtband, und gleichzeitig der erste in deutscher Übersetzung. Der Titel allerdings klingt weder auf Portugiesisch noch auf Deutsch besonders poetisch. Und doch ist es genau der richtige Titel für diesen Gedichtband des brasilianischen Dichters, der seit 2002 in Berlin lebt und arbeitet. Für die deutsche Übersetzung ist Odile Kennel zu danken, die auch das Nachwort verfasst hat, in dem sie bekennt, selten eine so anregende Übersetzungsarbeit gemacht zu haben. Das Ergebnis ist jedenfalls ganz und gar überzeugend. Laut Ricardo Domeneck sind die Übersetzungen sogar besser als die Originale.
Aber reden wir zunächst über das Thema des Buches, das, wie unschwer zu erraten sein dürfte, der Körper ist: „Seit der Aufklärung haben die Menschen vergessen, dass sie einen Körper haben“, sagt Ricardo Domeneck. Deswegen macht er ihn zum Thema.
Thomas Kunst bedauerte 2004: „Es wird nicht mehr gestaunt. Es wird sich nicht mehr gewundert. Aber es werden Nachmittagsseminare belegt. Es wird geforscht. Aber schon längst ohne Körper.“
Angesichts Ricardo Domenecks Gedichten ist dieser durchaus berechtigte Vorwurf haltlos. Hier ist ein Dichter am Werk, der Grenzen auflöst zwischen Wort und Bild, Geist und Körper. Ein Dichter, bei dem selbst die Übersetzung eines Gedichtes zu einer erotischen Übung wird. Für Domeneck sind weder Sprache noch Dichtung abstrakt, ebenso wenig wie man Dichtung vom Kontext, in dem sie entsteht und aufgeführt wird, trennen kann.
Seine Überzeugung, dass eine Trennung von Geist und Körper „ungesund“ sei, findet ihren Niederschlag nicht zuletzt darin, dass Domeneck mit unterschiedlichen Medien und mit Performances arbeitet. Er will neben den Ohren auch die Augen ansprechen.
Bereits im ersten Gedicht des Bandes („Hoch lebe die reine Poesie“) macht Domeneck seine Position, seinen Standort, deutlich. Ironisch behandelt er die Trennung von konkreter und abstrakter Dichtung und verleiht seiner Überzeugung Nachdruck, dass die konkrete Erfahrung wichtiger ist als die großen Ideale.
Als Kostprobe der Gedichte Domenecks, habe ich das Gedicht ausgewählt, das mich persönlich am meisten berührt hat:
Ìsis Dias de Oliveira (1941 - ?)
Vielleicht
würde sie sich gerade
langweilen an einem Sonntag
hätte den Blues
auf dem Sofa, oder schliefe
geschieden, vielleicht.
Vielleicht würde sie
mit den drei Kindern
die sie nie bekam
in einer Einzimmer-
Mietwohnung leben, glücklich
oder unglücklich
wie man eben so ist, vielleicht.
Vielleicht zöge sie
in dieser Minute
in der Sonne ihre abgenutzten
Lieblingsschuhe an
der Freundin stibitzt
mit der sie verstritten wäre
vielleicht. Vielleicht hätte
der Selbstmord sie längst
geholt, hätte sie schon
den zweiten Mann, eventuell
auch eine Kugel Eis, vielleicht.
Sie würde sich kugeln
vor Lachen vielleicht
beim Erzählen eines schlechten
Witzes, den ihre Freunde
schon nicht mehr
hören könnten. Vielleicht
würde sie fragen, warum
sie dieses Leben, diesen Kampf
geführt hat, wenn kein
besseres Land
herauskam als dieses.
Vielleicht wäre sie emigriert
wäre heiter in einem anderen
Klima, einer anderen
Sprache, vergessen
die Bewegung
der Untergrund, vielleicht.
Ihre Finger wären vielleicht
voller Druckerschwärze
von der Morgenzeitung
die vielleicht
wie früher
lügen würde
und das Schwarz
färbte ab auf die weiße
Keramiktasse, so wie
Materie von Materie
auf Materie übergeht
sofern lebendig
vielleicht.
Nun könnte man mir vorwerfen, dass dieses Gedicht nicht repräsentativ ist. Aber das stimmt nicht. Es ist nicht weniger typisch als die anderen Gedichte, die um den Körper kreisen, die also stets die konkrete Erfahrung an die Stelle der Abstraktion setzen. Sei es der verschwundene Körper der Ísis Dias de Oliveira, sei es die Erkenntnis, was Geschichte lehrt:
„Nichts womöglich.
Man glüht nicht
von fremden Fieber
man lernt nur
vom Messer und Feuer
an der eigenen Haut
nicht beim Betrachten
der Narben auf Fotos
von Vorfahren...“
Nicht die Notiz, dass Hunderte Menschen unter der brasilianischen Militärdiktatur (1964 1985) verschwunden sind, ohne dass ihre Körper jemals wieder aufgetaucht wären, berührt nachhaltig, sondern das einzelne Schicksal, das „vielleicht“, das einer Ìsis stellvertretend für all die anderen, verwehrt wurde.
Politik, Dichtung, Körper, darum geht es in Domenecks Gedichten und immer wieder um die Liebe, im „Text, in dem der Dichter den Liebhaber feiert, der fünfundzwanzig wird“, aber auch im „Wiegenlied für einen tauben Liebhaber“, das durch seine Lautmalerei besticht.
Illustration: Annemarie Otten
Wenigstens ein, zwei Sätze sind noch zu den gelungenen Illustrationen von Annemarie Otten zu sagen, die ebenso körperbetont sind wie die Gedichte. Eine Zeichnung zeigt z.B. eine Frauengestalt, die einen Sarg gebiert, auf einer anderen sieht man einen rührend kindkleinen Mann, der auf einem Bügelbrett kauert. Nicht zuletzt dank dieser Illustrationen und der kongenialen Übersetzung Odile Kennels, klingt der Titel: „Körper: Ein Handbuch“, nach dem Lesen durchaus poetisch. Weil es diese Trennung schließlich nicht gibt, zwischen dem Körper und der Poesie.
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