Tiere ohne Haut
Die überwiegend positiven Echos, die auf den Debutroman Das kalte Jahr folgten, sind noch nicht ganz verklungen, da erscheint mit den Erzählungen Urwaldgäste bereits Roman Ehrlichs zweites Buch. Und spätestens jetzt dürfte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass er einer der interessantesten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist. Ehrlichs Texte sind darum nicht langweilig, weil sie keinesfalls so perfekt, so geschliffen sind wie es einige Kritiker den studierten Schriftstellern derzeit gern vorwerfen. Das macht unter anderem den großen Reiz an diesem Buch aus; es hat Ecken und Kanten.
Dabei begegnet man in Urwaldgäste zunächst ziemlich bekannten Figuren wie Büroangestellten, Abteilungsleitern, Musikern, Bergleuten. Ihnen allen widerfahren Dinge, die schon unzählige Male auf Klappentexten angekündigt wurden. Um es kurz zu machen: Ihr gewohntes Leben gerät aus den Fugen. Aber nicht auf die Art, wie man es vielleicht erwarten könnte, denn Roman Ehrlich geht es um viel mehr, als nur eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen. Es geht ihm um essentielle Fragen des Alleinseins und des Miteinanders der Menschen in einer Welt, die kaum noch Konstanten zu kennen scheint, weil sie kaum noch Konstanten zulässt. Oliver Jungen nannte Urwaldgäste in der FAZ ein „fast soziologisches Buch“, was den Kern der Sache trifft.
Das wird bereits in der ersten Story Dinge, die sich im Rahmen meiner temporären Anstellung bei der Grinello Clean Solutions ereigneten deutlich, in der ein Telefonist unverhofft in einen Strudel von in sich verschachtelten Erzählungen gerissen wird. Ursprünglich versucht er eine ominöse Maschine, die seine Firma entwickelt hat, zu verkaufen, doch letztlich wird er Teil eines surrealen Albtraums, den ein anderer erlebt hat. In der zweiteiligen Erzählung Die Intelligenz der Pflanzen (Naturtreue) versucht der Herstellungsleiter für künstliche Pflanzen, Arne Heym, seinem unechten Leben zu entrinnen. Er beauftragt eine Agentur für alternative Realitäten damit, sein Leben zu einem Abenteuer zu machen, was jedoch schon am nächsten Tag aus dem Ruder läuft.
Die Stories selbst lässt Roman Ehrlich oft nur scheinbar aus dem Ruder laufen, wenn er mit unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Erzählebenen arbeitet. Allerdings wählt er manchmal einen sprachlich unnötig umständlichen Weg, der den Leser vom Geschehen abdriften lässt. Das scheint nicht immer gewollt, nicht immer kalkuliert. Vielleicht ist die Art des Erzählens in derart vielschichtigen und komplexen Geschichten aber auch gar nicht immer vom Autor zu steuern. Auffällig wird das vor allem, wenn Beschreibungen allzu sehr ins Detail gehen, sehr viel Konzentration fordern und so einen kühlen, distanzierten, fast technischen Ton erzeugen. Dieser Ton führt wiederum zu einer mysteriösen Art von Spannung, die den Geschichten nicht nur gut tut, sondern sie bisweilen auch trägt. So dürfte Urwaldgäste wohl vor allem all jene überzeugen, die etwas übrig haben für ein nur scheinbar realistisches Erzählen, das haarscharf an der Wirklichkeit vorbei zielt und so eine abgründige Welt offenbart, die in den Figuren selbst angelegt ist. Und natürlich all jene mit einer Schwäche für Roman Ehrlichs beneidenswertes Talent, Absätze enden zu lassen.
„Heym schließt die Internetseite, kehrt noch einmal zu seinem E-Mail-Postfach zurück, das keine neuen Nachrichten enthält, meldet sich dort ab und fährt den Computer herunter. Er sitzt eine Weile auf seinem Schreibtischstuhl vor dem dunklen Bildschirm, hört in die Stille seiner Wohnung hinein, ein leichtes Rauschen, ein Knacken irgendwo, wo sich ein Stück Metall entspannt. Er spürt Müdigkeit in seinem Körper und hinter den Augen. Man könne sich darauf einstellen, hatte die Seite der Agentur Lateralis angekündigt, alltäglich den Atem des Abenteuers im Nacken zu spüren. Arne Heym putzt sich seine Zähne, geht früh schlafen in frischer Bettwäsche und träumt nur sehr kurz in dieser Nacht, von einem Wald, in dem die Tiere ohne Haut herumgehen und sich wundern.“
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