„So eine Nacht ist das, in der sich alle von ihren alten Ideen abstoßen“.
Man könnte den Ton in Stanišić neuem Roman Lakonie oder Sarkasmus nennen. Diese Art wie er schreibt, die Art, wie er die Menschen skizziert und dabei zärtlich karikiert, aber mit dieser Beschreibung läge man haarscharf daneben und würde das Wichtigste übersehen, also das, was Stanišić Sprache wirklich ausmacht. Man würde in die Falle tappen, die er selbst auslegt:
„So klingt es, wenn welche sich für klüger halten als die Geschichte, sie trauen uns die Ironie nicht zu.“
Stanišić traut sich die Ironie sehr wohl zu. Aber er ist auch nicht allein. Er erzählt mit dem Wissen der Gemeinschaft, diesem seltsamen, nicht zu erklärenden unpersönlichen Wissen, das man die Stimme des Volkes nennen könnte, manchmal klug und manchmal einfach nur populistisch.
In „Vor dem Fest“ erzählt diese Gemeinschaft von sich selbst, von ihrem aussterbenden Dorf Fürstenfelde (eine Mischung aus den real existierenden Orten Fürstenwerder, Fürstenwalde, Prenzlau und Kraatz) am Abend vor dem Annenfest, von einer Füchsin auf Nahrungssuche für ihre Jungen, von Herrn Schramm auf der Jagd nach Zigaretten und der Malerin Kranz beim Versuch ein Nachtbild zu malen. Von denkwürdigen Gestalten, einem Scheiterhaufen und dem mysteriösen Einbruch ins Archiv im Haus der Heimat.
„Wenn bei uns irgendwo ein Fenster eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was entkommen sein könnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist.“
Eine der zentralen großartigen Ideen in „Vor dem Fest“ ist der Ausbruch der Vergangenheit, der sich in einem Einbruch in das Haus der Heimat manifestiert. So wie Stanišić die Stimmen der Einzelnen und die des ganzen Dorfes mischt, so mischt er auch Vergangenheit und Gegenwart.
„Wer schreibt die alten Geschichten?“ Auch diese Frage stellt das Buch und zeigt, dass die alten Geschichten auch in die vermeintlich neuen Geschichten eingeschrieben sind. So sauber getrennt, wie wir vielleicht gerne glauben, ist die Vergangenheit nicht von der Gegenwart. Das Fremde nicht von der Heimat. „Eine Haut aus Geschichte ist das, die uns wächst.“ Eine Haut, die uns gleichzeitig schützt und berührt, die das Verborgene ans Licht holt, und aus Archiven angestoßen ein Stück Literatur schafft, das seine Heimat über nationale Grenzen hinaus, zwischen der Geschichte und den Geschichten findet.
„Herr Schramm glaubt, dass es ganz egal ist, ob du Chinese bist oder Fürstenfelder, Fährmann oder Schiffbrüchiger in der Vergangenheit oder jetzt – eine Zeitlang leuchtest du. Du leuchtest so vor dich hin. Leuchtest vielleicht für niemanden, vielleicht für jemanden.“
Nach diesem Glaubenssatz erzählt Stanišić, das macht seine Art zu beschreiben, seine Figuren zu zeichnen aus. Er schreibt mit dieser Haltung. Jede einzelne Figur, die tieftraurige Frau Schwermuth, der Ex-Briefträger mit Stasi Vergangenheit, der stumme Suzi, Lada und all die anderen, einschließlich der eineinhalb Neonazis, über die Fürstenfelde auch verfügt, beschreibt Stanišić in ihrem eigenen Licht.
Ganz nebenbei liefert Stanišić mit „Vor dem Fest“ die einzig gültige Antwort zur aktuellen Literaturdebatte. Literatur kann und sollte sich über Grenzen hinwegsetzen und leuchten. Wenn das auch noch mit dieser bestechenden Selbstironie geschieht wie in Stanišić zweitem Roman, scheint sich darüber hinaus eine unerhörte Möglichkeit aufzutun, als könnte Volkes Stimme über sich selbst lachen. Oder als könnte sie es lernen. Mit solchen Büchern vielleicht.
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