„Der kleine Mann ist ebenso dafür.“
Die alten Mainstream-Comic-Haudegen Sid Jacobson und Ernie Colón ("Caspar, the friendly Ghost", "Arak, Son of Thunder" u.ä.) beschäftigen sich nun seit rund zehn Jahren mit "ernsten" geschichtlichen Stoffen. Eines der Ergebnisse dieser Beschäftigung ist "Das Leben von Anne Frank. Eine grafische Biografie".
Das Medium Comic, und das trifft auch auf die verhältnismäßig junge, verhältnismäßig reflektierte Form der "Graphic Novel" zu, lebt von der grösseren Unmittelbarkeit seiner Darstellungsmittel im Vergleich zu geschriebener Literatur. Diese Unmittelbarkeit ist für ein Unterfangen wie die vorliegende Anne-Frank-Biographie Segen und Fluch zugleich.
Sie ist ein Segen, da die Bildebene verhindert, dass wir Leser uns angesichts solcher menschlichen Ungeheuerlichkeiten wie des Holocaust ins Abstrakte flüchten. Wer die Biographie einer ermordeten Jüdin lesen will, kommt hier eben nicht umhin, ihre Ermordung als eine solche zur Kenntnis nehmen (und das gilt auch die ewigen Relativierer, die - in jüngster Zeit leider wieder etwas mutiger - nun bemäkeln werden, es sei ja "nur" Typhus gewesen, dem die Frank-Schwestern letztendlich zum Opfer gefallen seien). Anders als in klassisch-niedergeschriebenen Monographien können wir uns nicht so leicht aus dem Fluß identifaktorischer Rezeption verabschieden und die Erzählung an einer beliebigen Stelle "für uns" emotional für abgeschlossen erklären, um den Rest bloß noch als eine Art "Lehrinhalt" "über uns ergehen lassen".
Die Unmittelbarkeit der Bilder ist aber auch ein Fluch, weil sie Urheber und Rezipient gleichermaßen verführt, komplexe Zusammenhänge unzulässig zu verkürzen und Argumente auf Inszenierungen herunterzubrechen. Diesem Fluch ist zwar beizukommen, aber nur insofern, als man sich aussuchen kann, welchen Aspekt eines Stoffes man so verkürzt. Am besten, man wählt jenen, der für die entscheidenden Diskurse, die ein Gebilde aufruft, am wenigsten relevant ist.
Bei der Lektüre der ersten paar Kapitel von "Das Leben der Anne Frank" - jenen, die die Vorgeschichte der Familie und die Kindheit Annes zum Gegenstand haben - erschien mir zunächst, das Verfasser-Team hätte hier eine falsche Wahl getroffen. Was da nämlich deutlich verkürzt und höchst schablonenhaft auf diverse Punkte gebracht wurde, war die Figurenrede. Die Sätze, die in den Sprechblasen dieser Graphic Novel stehen, wirken, als wäre nicht das jeweilige Gegenüber der Figur ihr Stichwortgeber, sondern die "Erzählerstimme" in den Beschreibungsbalken. Kaum je bilden mehrere aufeinanderfolgende Bilder einen Dialog oder eine kontinuierliche Handlunsgfolge ab. Stattdessen steht fast jedes Bild als Miniatur für sich. Der leicht gestelzte Gestus in der gleichmäßigen Abfolge von Bild, Beschreibung und Sprechblase -
Bild: Edith Frank am Fenster. - Beschreibung: "Sie sprach oft voll Wehmut über ihr vergangenes Leben." - Denkblase: "Ich vermisse Deutschland..."
Bild: Männer mit Paketen. - Beschreibung: "Am 1. Dezember bezog die Firma neue Räumlichkeiten in der Prinsengracht 263." - Sprechblasen: "Ausgezeichnet! Endlich Platz für unsere schweren Gewürzmühlen im Erdgeschoss." - "Ja, Platz haben wir hier genug."
- bedingt einen Leserhythmus, der an US-amerikanische Dokumentarfilme und "Public Service Announcements" der Fünfziger- oder Sechzigerjahre erinnert, mit ihren kurzen nachgestellten Szenen zwischen Erklärungen des Sprechers und dokumentarischen Bildtafeln. Die häufig eingestreuten "Schlaglichter" auf die jeweils parallel zur Geschichte der Familie Frank laufenden politischen und gesellschaftlichen Ereignisse - "Deutschland im ersten Weltkrieg", "Aufstieg und Anziehungskraft der NSDAP" etc. - verstärken diesen Eindruck, einen halbdokumentarischen Film zu sehen, ebenso wie der häufige Rückgriff der Erzählerstimme auf Formulierungen wie
"Rosa de Winter, die sie dort traf, erinnerte sich später: ..."
Wie gesagt: Mir erschien die Wahl, in dieser Weise zu verkürzen, am Anfang der Lektüre falsch - "unauthentisch". Ich dachte: Mehrere Seiten lange Szenen, die im Abstand von je z.B. einem Jahr spielen, würden dieser Geschichte gerechter, weil sie sich mehr polyvalente, "lebendigere" Figurenrede beinhalten könnten. Was mir erst mit der Zeit beim Lesen aufging: Diese spezielle Darreichungsform des Stoffes ermöglicht ein ungefähr gleichmäßiges Fortschreiten der erzählten Zeit zwischen der Hochzeit von Otto und Edith Frank und dem Tod Annes. Diese Gleichmäßigkeit vermittelt etwas, das die nur scheinbar lebendigere Form, die mir als Gegenbild vorgeschwebt hatte, unter 900 Seiten nicht vermitteln könnte: Das Neben- und Ineinander von ganz normalem Alltag und Katastrophe.
Deutlich ist dem Buch ausserdem - wie so vielen anderen Graphic Novels mit historischem Stoff - anzumerken, dass es für den amerikanischen Markt konzipiert ist. Bestimmte Zusammenhänge und Abläufe, die zumal im deutschsprachigen Raum als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt werden, wenn es um die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geht, werden hier stets nochmal rekapituliert.
Insgesamt wirkt "Das Leben von Anne Frank" wie ein nützliches, einführendes Komplement zu Anne Franks Tagebuch. . Die Comic-Formensprache, in der die Verfasser geschult sind, wird benutzt, um einen Gegenstand zu verhandeln, ohne ihn mit künstlerischen Ansprüchen oder Genrekonventionen zu überfrachten. Es gab eine kurze Zeit in der Geschichte der deutschsprachigen Länder, da sich vielleicht die Frage stellen hätte lassen, ob es überhaupt nötig (und der Sache angemessen) sei, die ausgemergelten Körper von KZ-Opfern wieder und wieder und wieder in allen möglichen Medien zu inszenieren. Diese Zeit ist vorbei und diese Frage beantwortet: Es ist nötig und angemessen. Bei einer Umfrage stellte sich etwa heraus, dass es Oberstufenschüler in Berlin gibt, die glauben, das Regime, "das angeblich die Juden vergast hat", und jenes, das 1991 durch die deutsche Wiedervereinigung verschwand, wäre dasselbe gewesen. Anlässlich einer Stadtführung in Graz, bei der Schülergruppen Schauplätze der Kriegsvergangenheit präsentiert und erklärt wurden, durfte der Rezensent kürzlich Zeuge werden, wie eine Mehrheit der anwesenden Jugendlichen - zum Teil durchaus eloquent - die Meinung vertrat, die "Besatzung" durch die Alliierten wäre "ungerecht" gewesen. In Hinblick auf solche Fehlleistungen dessen, was als "Erinnerungspolitik" bezeichnet wird, wäre zu wünschen, dass "Das Leben von Anne Frank" viel gelesen und vor allem von vielen Schulbibliotheken erworben wird.
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