„Balancierte Ängste auf goldenen Dächern“
Mithilfe haltloser Leichtigkeit versucht sich das Gedicht von Regine Mönkemeier aufzuschwingen – es gelingt, wenn man viel Wohlwollen walten und sich rein von der euphorischen Fanfare tragen lässt, die dieses Gedicht in seiner Summe ist. Das Tosende des Glücks – fast eingefangen hier.
Die wilde Fahrt, vom Achat zur archaisch-kindlichen Lust und dem Geheimnis der längst entlaufenden ersten Erregungen, auf die Hey, Palsson uns einlädt, sie gerät etwas zu turbulent für meinen Geschmack. Ich kann der Bilder- und Versatzflut nicht ganz folgen und so spüre ich nur einzelne Eindrücke, kein Konzept.
Die beiden "Handteller" genannten Texte von Pega Mund bestechen durch wunderbare Einfachheit, die keine Erklärungen heranzieht. Dennoch ist dieses Fehlen von Kontext nicht auszublenden, und die Texte werden zum Umriss. Nur im zweiten Text wird meiner Meinung nach die Dichte erreicht, die dann aus diesem Umriss etwas Tiefes macht – mit dem Satz:
auf Strümpfen also müssen sie gehen, die Toten
Etwas zerfasert, aber immer noch stark, in schönen Bögen, bewegen sich die beiden Gedichte von Marit Heuß um ihre aufgerufenen Themen, denen sie mehr zuwinken als sich ihnen wirklich zu nähern. Das eine Gedicht, "Cospuden" (ein Stadtteil im Landkreis Leipzig, der in den Siebzigern dem Braunkohleabbau weichen musste, später wurde an der Stelle ein See "errichtet"), springt zwischen Detailäußerungen und der Imagination der Vergangenheit hin und her, eine schöne Technik, die sich allerdings selbst ein wenig zur Unscheinbarkeit verdammt.
sie finden nur immer Lust und
kalte Gebeine die
Schrecken verraten
Ein sehr starkes Gedicht ist Alexandra Bernhardt mit "Logos" gelungen – ein kompromissloses Gedicht, eine Fuge, die Existenzgewalt und Wortgewalt übereinander zu legen versteht. Ein einziger Atemzug, ein Schrei möglicherweise, ein Fluch, eine vom Anfang bis zum Ende gespannte Sehne. Der Pfeil trifft, heftig. Dagegen fällt ihr Gedicht über den "Abyssos New York" stark ab. Man spürt schon in der Überschrift, dass die kurzen acht Zeilen zu wenig sein werden, um das Auszudrückende zu transportieren.
Kathrin B. Külows erstes Gedicht spinnt mich ein, ich verstehe seine Sehnsucht, die schön ausgeführt wird – aber die letzte Zeile, die verstehe ich nicht. Ich dachte, es geht um einen Platz, wo nichts hindringt, wo aber Wasser und Dunkelheit sind, diese unruhigen Elemente, die zugleich eine beruhigende Wirkung haben (auf gewisse Weise, wenn nichts sie bevölkert, befährt) … warum dann am Ende:
wo unter breiten blättern unbeweglich
gepanzert räuber stehen
Schwierig, wenn ein Gedicht auf gelungene Art und Weise mit seinem Leser kommuniziert, dieser Leser aber am Ende nicht weiß, was kommuniziert wurde. Obwohl: Gerade bei einem Gedicht kann man sich darauf hinausreden, dass es ja nur aus einer Bewegung bestehen, die sich vollführt. "Oben & Unten" von Marvin Neidhardt ist so eine Bewegung, so ein Gedicht, das sehr gelungen kommuniziert. Man folgt ihm gern, bis zum Schluss.
Wie eine Kreuzung aus Melvilles Schreiber Bartleby mit einem unnahbaren, nicht aus der einschablonierten Lässigkeit fallenden Sonderling, wie ihm viele sicherlich schon einmal begegnet sind, nimmt sich André Pattens Figur Alex aus, in seiner Büroerzählung "Der richtige Job". Schmaler Witz, sehr gute Narration und ein unspektakulärer Spannungsbogen lassen den Text etwas zu glatt erscheinen. Er ist nicht wirklich unterhaltsam,
liest sich dennoch gut.
vital sind jene, die im traum
auf eigenen exekutionen
flanieren
Mal abgesehen davon, dass man nur einmal exekutiert werden kann, kann man auf Exekutionen schlecht flanieren. Auf dem Schafott vielleicht, auf dem Richtplatz, und selbst, wenn man Exekutionen als Ereignis, nicht als Handlung sieht, bleibt das Bild schief. Die beiden Gedichte von Anna Fedorova haben grundgelungene Ansätze, aber auch viele genüssliche Ausbuchtungen, mit denen ich nichts anfangen kann und die schwer zusammengehen.
Angela Flams "gleich klang" ist eine wunderbare, ganz vom Metaphorischen getragene, gut ausbalancierte poetische Ausführung.
Anfang und Ende von Andreas Hegewalds "Prometheus" sind unerhört gelungen, dazwischen verzettelt sich das Gedicht in seinen schiefgezimmerten Reimen. Bei aller Liebe fürs Sujet: Diese schiefen Reime werfen lange Schatten, und das Ganze wirkt wie ein Spiel mit Attrappen. Gleiches gilt für sein zweites Gedicht "Das gute Ende" – gute Gedanken, schwierige Form.
Ich will sie ja lieben, diese Geschichte, dieses Märchen vom Bleistiftanspitzer, der eigentlich ein Dichter ist und der von seinen Mitbürgern als Nichtsnutz, als Parasit angesehen wird. Aber obwohl ich sie sehr schön finde, ist Sandra Hlawatschs Geschichte doch etwas zu moralisch und etwas zu einfach gehalten, vor allem in den Aussagen ihrer Protagonisten. Das ist natürlich nur eine ästhetische Kritik. Die Kraft der Geschichte an sich, sie ist ganz wunderbar.
Andreas Reichelsdorfers Text "Zur Raucherfrage" beginnt nachvollziehbar, steigert sich dann in eine metaphysische Dichte und ein Schwanken, die ich beide nicht mehr wirklich visualisieren kann. Schade.
Ich werde zu Schnee
so meint mich der Wind eisig
wehe ich purzelnd
Constanze Böckmanns minimalistische Gedichte bleiben mir ein Rätsel. Sie erscheinen mir wie Traumeindrücke, Versuche, ein Gedicht zu erreichen, das aber nicht erreicht wurde. Vielleicht geht es ja einfach nur um das Bild.
Das Inventar in den Gedichten von Patrick Wilden: so gewöhnlich und doch unverständlich zusammengefügt. Da wird Haltloses aneinandergereiht und es entsteht dementsprechend der Eindruck von Haltlosigkeit. Es ist, als plumpsten meine Augen wie Murmeln die Zeilen hinab, stockend, klackernd.
Ein wunderbares, kurzes Stück, so unscheinbar wie mitnichten fadenscheinig: Benedikt Dyrlichs "Die Milchkanne". Ein Text, in dem Erinnerungen gleichsam wichtig und unwichtig sind, ein Achselzucken im Hier und Heute.
Schwer zu greifen ist die Anwandlung von Kindheitsrückblick in dem Gedicht von Marlies Blauth. Viele schöne Bilder werden aufgefunden, reale Phantasien in der Stimme, wie einst in Kinderzeiten. Aber ich weiß nicht wirklich, was das Gedicht mir sagen will, obwohl ich glaube, dass es sich um etwas sehr Bestimmtes handelt.
Immerhin eine ungewöhnliche Form, die Ingeborg Woitsch für ihre Texte gefunden hat, mit Reduktion, mit Fährten und Nahelegungen arbeitend. In ihrer Sorgfalt und Verknappung liegt der Reiz dieser Texte. Man sollte jedes Wort lesen, als wäre es etwas Wesentliches.
Lange habe ich kein so schlicht-schönes Gedicht mehr gelesen wie Sigune Schnabels "Träume tragen keine Winterschuhe". Eine Kostprobe?
Als die Worte von den Bäumen fielen,
regnete es.
Die Erde bog sich
wie eine hohle Hand
Du holtest Eimer und Schirm,
doch unsere Träume
gingen barfuß
über Disteln.
Den Klischees entkommt dieses Gedicht nicht durch das Vermeiden von Klischees, sondern dadurch, dass es Klischeebezichtigungen vergessen lässt, angesichts einfachster Sinnlichkeit.
Sehr sympathisch und gleichzeitig wie von fern kommt die Stimme aus Maria Orlovskayas Erzählung über eine autonome Siedlung an den Leser heran, streut Brotkrumen vor ihm aus, weist mit dem Finger auf das wenig Seltsame. Obwohl einem alles wie eine Idylle erscheint, hört man am Ende: Vergiss Idyllen. Es ist alles zu wenig hier, trotz der netten Leute. Wie überall, vielleicht.
Grandios: Simone Schaberts kurzes Gespinst, in dem die Struktur, das Abbild eines Wunsches, fein mit Worten eingeschrieben, nachvollzogen und abgeklopft wird. Beeindruckend, rund, sehr gelungen!
Einen gewissen Coolness-Faktor haben sie schon, die Gedichte von Johannes Witek, und er hat den Mut, mit der Sprache ganz nah an dem zu bleiben, was er als Aussage formulieren will; er braucht keine Zwischenfolie aus anschaulichen Vergleichen oder Metaphern. Diese Direktheit ist erfrischend und teilweise, vor allem im ersten Gedicht, gelingt es ihm auch, den Leser dranzukriegen, mitzureißen.
Mal abgesehen von einem Abschnitt kurz vor Ende, wo es etwas schwammig wird, ist Jörg Kleemanns Gedicht "Aus dem Gesicht" eine wunderbare Daseinsablichtung, rasch fokussiert, schnell von einer Lage in die andere gewendet, sehr knapp in seinen Mitteln, aber jedes Wort fixiert Details, spricht von Existenz, von ihren Eigenschaften und Untiefen.
Das Gedicht über den Freund Hain, der sich in alles verbeißt und ein Klingelspiel, das ist ganz süß, ganz fein, ein Langgedicht mit Narrativ von Oliver Zorn, es gefällt mir, es macht bei aller Unscheinbarkeit Spaß.
Mir gefällt so manches Bild, so manche Wendung. Eigenwillige, fast schwammige Bilder inmitten normaler Umgebungen, mit einem Schuss Allen Ginsberg, einem Schuss Rauheit, die Gedichte von Nico Feiden kann man ohne weiteres als etwas Besonderes bezeichnen. Trotz der vielen, großen, schweren, Wörter.
So ganz kann ich diese Geschichte vom einsamen Mann, die Kat Goetze erzählen will, nicht glauben, auch wenn er sie auf sympathische Weise mit der Figur des Esels verbindet. Alles geschieht hier, als sei es eher unerheblich. Ich würde gern mehr die Ernsthaftigkeit des Themas spüren; doch zu sehr wird auf die Einsamkeit gepocht, sie sollte lieber gezeigt werden. Jemanden nur als schlichte Opferfigur darzustellen, funktioniert meistens nicht.
komm komm komm
wir zerstören die stadt
wie losgerissene einhörner
Eine wunderbare Belebtheit, eine rennende, fliegende Dynamik, die ihre einfachen, aber gelungenen Reize verstreut – Petrus Akkordeons Gedichte habe ich sehr gerne gelesen.
Steffen Heidrichs "Sarajevo, trinklichter" heischt mir zu sehr, reiht zu routiniert Gefälle an Gefälle, gibt sich als zu große Geste aus. Es sind gelungene Bilder darin, sehr gute Stilwechsel, aber die verblassen in der epischen Unausweichlichkeit, die der Text für sich in Anspruch zu nehmen scheint, die ganze Zeit.
Der kurze Text über das Wort "Klapsmühle" (und inwiefern es zutrifft / nicht zutrifft) hat einen gewissen Charme, allerdings kommt Michael Wehrmann darin zu keinem überraschenden oder interessanten Gedanken. Unaufgeregt beginnt der Text und endet mit einer geradezu gebräuchlichen Conclusio.
Ein schöner Abschluss, fast harmlos schnell, aber doch eine gute, kurze Erzählung, gelingt Michael Wehrmann dagegen mit seinem Text "Die schwarzen Kufen".
Sehr zu loben: die wunderbaren Bildteile dieses Bandes, Werke des Künstlers Wolfgang E. Herbst Silesius. Sie liegen irgendwo zwischen dem Gekrakel und der Buntheit eines Kinderbildes und einer Art von expressivem Impressionismus. Ich ertappte mich mehrmals dabei, wie mein Blick von den Texten weg und hin zum Bild schlich. Bilder, die man sehr gerne immer wieder aufschlägt, ein Art von gebannter, bunter Freude.
Die Anzahl an Texten, die man geboten bekommt, ist groß. Einige wirken nicht zu Ende gedacht, und manchmal ist bei den Prosatexten die Kürze ein Handicap. Bei den Gedichten gibt es Überflieger und zu leichte Kaliber. Alles in allem: eine bunte Mischung, die Überraschungen und Enttäuschungen bereithält.
Beteiligte Autor_innen dieser Ausgabe:
Gedichte: Alexandra Bernhardt, Andreas Hegewald, Angela Flam, Anna Federova, Daniel Ableev, Hannah-Sophie Fuchs, Ingeborg Woitsch, Jannes Profitlich, Johannes Witek, Jörg Kleemann, Katrin B. Külow, Marit Heuß, Marlies Blauth, Marvin Neidhardt, Nico Feiden, Oliver Zorn, Patrick Wilden, Pega Mund, Petrus Akkordeon, Regine Mönkemeier, Sigune Schnabel und Simone Scharbert.
Haiku und Tanka: Constanze Böckmann
Kurzprosa: Andre Patten, Andreas Reichelsdorfer, Benedikt Dyrlich, Hey Palsson!, Kat Goetze, Maria Orlovskaya, Michael Wehrmann, SAID, Sandra Hlawatsch und Ulf Großmann.
Aquarelle und Zeichnungen: Wolfgang E. Herbst Silesius
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