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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Metakern

Sachen mit Woertern
Hamburg

Verspielt und gehaltvoll ist das kleine Heft. Sachen mit Woertern. Also keine Spielsachen, aber Sachen, mit denen man spielen kann – mit Wörtern. Der Titel der kleinen Literaturzeitschrift, die grafische Aufmachung und der Gehalt – es ist erstaunlich wie viel man auf 58 Seiten unterbringen kann – korrespondieren miteinander, nicht zuletzt, weil jedes Heft ein Thema hat. Die neueste Ausgabe vom Februar 2016 der halbjährlich erscheinenden Zeitschrift spielt mit dem Wort KERN. Da jeder Buchdurchblätterer zuerst an Bildern hängenbleibt, stößt er hier auf  Pètrus Akkordéons Schreibbilder, die mit den Sachen spielen, die einem als erstes zum Kern einfallen, denen er aber ein semantisches Krönchen aufsetzt: aus Goethes des Pudels Kern wird bei ihm: der Pudell  – mit zwei L, somit französisch klingend – also der Pudell & sein Kernwesen, ein wunderliches Tier, an dem die Augen lange herumspielen können. Dies ist nur ein Beispiel, wie Akkordéon zeichnend schreibspielt, auch mit dem Kernbeißer wird so verfahren, mit dem Kernschatten und vielem mehr, so dass man befürchtet, bereits der Zeichner könne das Thema Kern ausgelotet haben.

Ich will ja auch noch beim Lesen was vom Kern haben und das bekomme ich: Das klopfende Herz eines überfahrenen Fuchses, das Wurmloch in der Ursuppe des Alls, das Loch im Hühnergott, was kann nicht alles Kern sein. Die ersten unsterblichen Zellen, vor sechzig Jahren einer Krebspatientin entnommen, leben immer noch und werden an Labore verkauft – ein grausliges Bild, ihre Gesamtmasse übersteigt die Körpermasse der jungen Frau mehrere hundert Male. Dieser Kurztext im Gewand eines Gedichts von Mikael Vogel gibt nüchtern die Fakten wieder, das Ungeheuerliche, eigentlich Unvorstellbare, entsteht im Kopf des Lesers als Kern möglicherweise.

KERN
heißt mein Nachbar
bzw. die Klingel
ihn hab ich noch nie
gesehen da steht nur
schwarz auf weiß
rechteckig eingegrenzt
KERN

Magda Kotek schreibt ihre Zeilen sogar in der Form eines Kerns. Die Herangehensweise der 19 Autoren ist so unterschiedlich und der Leser springt von einer Kernidee zur anderen, dass ihn längere Texte schon fast ungeduldig machen.

Im Kern des Hefts finden sich grafisch aufbereitet die „Kernkompetenzen der Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe“.  Von Migräne über Sparen, Fernsehen bis Voodoo und positiv geladen – findet sich alles Vorstellbare und Nichtvorstellbare. In der Rubrik „Quelle Internet“ ballt sich das Wissen um den Kern, vom Kern als Tierkörper ohne Haut, verschiedene mundartliche Begriffe für das Kerngehäuse des Apfels wie Griebs, Nüssel, Grutze, Butzen. Und wer von den Schreibenden hat es bisher gewusst, Kerning, in der Typografie das Verringern des Fleisches, ist der nicht bedruckte Abstand zweier benachbarter Buchstaben.

Im Interview mit dem ungarischen Lyriker Márió Z. Nemes, der in dem Internetprojekt Versum Gedichte ins Ungarische übersetzt, geht es ums Übersetzen: „ich denke, dass man beim Übersetzen den Text immer neu kodieren muss, kulturell, man muss einen neuen Kern finden für das Gedicht“. Und die spannende Erkenntnis, wie es ist zweisprachig zu leben: „Ich habe eine andere Identität in der jeweils anderen Sprache.“ Zwei Kerne? Einen Metakern? Jetzt habe ich mich selbst schon angesteckt. Unbedingt erwähnt werden muss der Text von Sören Maahs: Obstentkernung. Hier wird eine Kulturtechnik an verschiedenen Früchten literarisiert, die Mandarinenfrage geklärt, Blut und Kitsch im Granatapfel entdeckt, sowie der Äquatorialschnitt anhand der Nektarine demonstriert.

SACHEN MIT WOERTERN – Das Debüt Mich machte die kernige Vielfalt dieser einen, der sechsten, Ausgabe neugierig auf die Themen der Vorgängerhefte. Das erste lautete folgerichtig Das Debüt. Weiterhin folgen: Pausen, Takt, Dunst und Strom folgten. „Sachen mit Woerten“ entstand vor vier Jahren als Projekt der Freien Universität Berlin, die die Zeitschrift über die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen auch weiterhin unterstützt. Die vier Herausgeberinnen sind Redaktion und Vertreiber der 250 Exemplare. In einem Kurzfilm der Crowdfunding-Plattform Startnext sprechen sie über ihre Intensionen, eine ist, sich mit ihrer Literaturzeitschrift „bewusst vom elitären Literaturbetrieb“ absetzen zu wollen. Mit der Crowdfunding-Aktion haben sie die aktuelle Ausgabe cofinanziert, Ziel war es einen Druckkostenzuschuss einzuwerben. 300 Euro! Wie bescheiden. Zum Vergleich ein Beispiel aus dem elitären Literaturbetrieb: Der renommierte HANSER-Verlag (was hat das Unternehmen auf einer Crowdfunding-Plattform zu suchen?) wollte für das „Morgen mehr“-Roman-Experiment mit Tilman Rammstedt ebenfalls auf Startnext 4000 Euro zusammentrommeln und schaffte 5692 Euro. Prozentual waren die „Sachen mit Woertern“-Damen erfolgreicher, sie schafften mehr als das Doppelte des Fundingsziels.

Die Themen werden ausgeschrieben. Das nächste lautet: Spur. Bis zum 30. April 2016 können Beiträge an sachenmitwoertern@mail.de gesendet werden. Diese Information droht im Heft fast unterzugehen, wie auch die Kurzvitae, sie sind in orangegelber Schriftfarbe gedruckt, die schwer zu lesen ist. Das bleibt jedoch das einzige Manko dieser spielerischen und gehaltvollen Zeitschrift für Literatur und Ähnliches für nur 3,50 Euro.

Bestelladresse: sachenmitwoertern@mail.de  Sachen mit Wœrter  c/o Magdalena Koller Siegfriedstraße 11 12051 Berlin

Theresa Lienau (Hg.) · Mena Koller (Hg.) · Laura Schlingloff (Hg.) · Anneke Lubkowitz (Hg.)
Sachen mit Woertern | Kern
# 6
Illustration: Pètrus ºAkkordéon
Sachen mit Woertern
2016 · 3,50 Euro
ISBN:
ISSN-Nr.: 2365-8843

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