Gesammelte Widersprüche
In seinem Film Annäherung an Thomas Brasch gibt Georg Stefan Troller zu, den Schriftsteller zum Abspielen einer Heinrich Heine-Schallplatte veranlasst zu haben. „Besitzen tut er sie immerhin“, so der lakonische Zusatz des Regisseurs. Was folgt, sind die Verse eines Dichters, dessen Heimatland ihm Zeit seines Lebens fremd geblieben ist. „Ich bitte dich, laß mich mit Deutschland in Frieden! / Du mußt mich nicht plagen mit ewigen Fragen / Nach Heimat, Sippschaft und Lebensverhältnis; / Es hat seine Gründe - ich kanns nicht vertragen.“
Es sind die Worte des Exilanten Heines (1844 veröffentlicht in der Sammlung Neue Gedichte), den ein Publikationsverbot von Deutschland nach Frankreich trieb. Thomas Brasch teilte dieses Schicksal. Nachdem er Mitte der 1970er keine Chance mehr sah, seine Texte in der DDR publizieren zu können, übersiedelte er mit seiner Lebensgefährtin Katharina Thalbach in die BRD. Dass das Leben jenseits der Mauer nicht unbedingt besser war, wusste er. Von Anfang an wehrte sich Brasch deshalb gegen eine Vereinnahmung seiner Person durch die bundesdeutsche Presse. Er wollte nicht als Dissident vorgeführt werden, der nun endlich die Früchte der Meinungsfreiheit genießen konnte. „Dass man hier frei heraus sagen darf, was man auf dem Herzen hat, macht für ihn diese Herzen nicht glücklicher“, so Troller in seinem bereits 1977 entstandenen Dokumentarfilm, in dem Brasch sich sachlich und distanziert gibt.
Als Thomas Brasch im Dezember 1976 aus der DDR in die BRD ausreiste, war er 31 Jahre alt und hatte fast schon ein ganzes Leben hinter sich. Als Sohn eines hohen SED-Funktionärs besuchte er zwischen seinem elften und fünfzehnten Lebensjahr die Kadettenschule der NVA. Das Journalistikstudium in Leipzig musste er wegen „Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR“ abbrechen. Die Zeit an der Filmhochschule Babelsberg endete 1968 vor Gericht, weil Brasch Flugblätter gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag verteilte. Nachdem er vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, arbeitete Brasch als Fräser. Die Zeit dieser staatlichen „Erziehungsmaßnahme“ haben die Texte des Lyrikers Brasch stark geprägt. Nach kurzer Zeit im Brecht-Archiv lebte Thomas Brasch ab den 1970er Jahren als freier Schriftsteller. Als Mitunterzeichner der Resolution gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann geriet Brasch 1976 erneut mit der DDR-Führung in Konflikt – als Ausweg sah er nur die Ausreise.
Bis zu seinem Tod im Jahre 2001 blieb Thomas Brasch ein vielseitiger Autor. Er verfasste nicht nur Prosatexte und Gedichte, sondern auch Dramen, Hörspiele und Drehbücher, die er als Regisseur selbst verfilmte. Und obwohl der kürzlich erschienene Band Die nennen das Schrei eine erste Ausgabe der gesammelten Gedichte Braschs ist, gibt er doch auch einen Einblick in die Vielfalt seines Werkes. So findet man darin neben den lyrischen Texten auch zahlreiche dramatische Werke und sogar Prosaskizzen. Grund dafür ist unter anderem Braschs Suhrkamp-Erstling Kargo, der in dem von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebenen Band in vollem Umfang wiedergegeben wird. Das 1977 erschienene Buch hat den Charakter eines Sammelbandes, stellte für seinen Autor aber ein „Experimentierfeld für neue Formen“ dar, auf dem die klassische Gattungstrias aus Lyrik, Epik und Dramatik kaum mehr bestand hatte. So changiert zum Beispiel der Text Eulenspiegel zwischen Langgedicht, Versdrama, erzählender Prosa und Essay. Der 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, wie Kargo im Untertitel heißt, ist nicht nur das Zeugnis einer literarischen Orientierungsphase. Die persönliche Irrfahrt Braschs zwischen Freiheit und Isolation, zwischen zwei deutschen Staaten spiegelt sich in Texten wie Sindbad, Die stumpfe Ecke oder den immer wiederkehrenden Selbstkritiken. Was nicht mit den passenden Worten zu fassen ist, wird nicht aufgeschoben, sondern fotografiert. Die Bilder, die Brasch 1977 in West-Berlin aufnahm, geben den desillusionierten Blick auf ein kaputtes Wunderland wieder.
Braschs Reflexionen orientieren sich jedoch nicht allein an seiner eigenen Biographie. Vielmehr interessieren ihn die Bruchkanten der Gesellschaft, die Widerstände und Widersprüche im Zusammenleben der Menschen. So ist auch eine gewisse Vorliebe für Outlaw-Figuren in seinem Schreiben zu verstehen, vor allem in Gestalt historisch verbürgter Charaktere wie Jack the Ripper, Werner Gladow oder dem Mörder Ratzek. In einem Interview von 1982 erklärte Brasch seine Faszination für diese Figuren so: „Sich nicht einzureihen, sondern sich ziemlich bewußt außerhalb der Gesetze und der Normen zu bewegen und […] die in der Gesellschaft vorhandenen Widersprüche zum eigenen Vorteil zu nutzen und so sich eine Zeit herauszurauben und herauszukriminalisieren, die der eigenen Vorstellung von Glück oder von Lebenswerten am ehesten entgegenkommt. Das heißt für mich zuerst einmal, sowohl kindliche wie plebejische Formen von Widerstand zu haben.“
Die historischen Widersprecher und Widerständler wurden dann auch zum Vorbild seiner eigenen Outlaw-Figur. Den Mädchenmörder Brunke, den die Brasch-Leser aus der gleichnamigen Erzählung von 1999 kennen, kann man Dankder neuen Gesamtausgabe endlich in all seinem Facettenreichtum kennenlernen. Ein Gutteil der Gedichte aus dem Nachlass, die hier erstmals in vollem Umfang zugänglich gemacht werden, beschäftigt sich mit der eigenwilligen Figur, die das Vorbild Georg Büchner mal mehr und mal weniger deutlichen erkennen lässt.
Überhaupt kann man die Editionsarbeit, die Martina Hanf und Kristin Schulz bei der Zusammenstellung dieses Bandes geleistet haben, nicht hoch genug schätzen. Die nennen das Schrei ist nicht nur eine umfassende Sammlung der lyrischen Werke Braschs, sondern auch ein hervorragender Kommentar zur Entstehung der Texte. Der Abdruck verschiedener Gedichtfassungen sowie die Beigabe ausgewählter Manuskriptseiten im Bildteil lassen den akribischen Arbeiter, Tüftler, schließlich den Umdenker Thomas Brasch erkennen. Ein Autor, der stets Kritiker war und die generelle Unfreiheit des Menschen in Leistungs- und Konsumgesellschaften thematisiert hat sowie die Repressionen, die den Freidenker von Seiten der Obrigkeit erwarten.
Zum Abschluss eines der besten Gedichte aus dem wohl populärsten Band Braschs Der schöne 27. September:
Zum Beispiel Galilei
Die Erde ist nicht Mittelpunkt der Welt,
sie ist ein Stein, der um die Sonne fällt,
sagt Galileo Galilei aus Padua,
der mit dem Fernrohr in den Himmel sah.Kaum ist das Wort heraus, schon würgt der Hals.
Der Schweiß läuft über seinen Blick, als
er das Flüstern hört, den Schatten sieht,
der vor dem Fenster seine Kreise zieht:Halt deine Zunge fest, die Augen zu:
Ich sehe einen Blinden. Wen siehst du.
Ich sehe einen Stummen hinterm Fenster stehn
in einem Haus, um das die Wächter gehn.Die Mönche schleppen ihn nach Rom vors Papstgericht,
sie zeigen ihre Instrumente vor im Kellerlicht:
Sag, Physiker, wie deine Wahrheit heißt,
wenn einer dir das Herz aus deinem Körper reißt.Und Galilei sagt: Unsre Erde ist kein armer Stein,
der um die Sonne fällt. Sie steht im großen Schein.
Auf ihr stehn wir im Mittelpunkt der Dinge fest
Und über uns steht Gott, der seine Sonne kreisen lässt.Dann wird der Mann, der eine Wahrheit weiß,
doch abgezählt hat an zehn Fingern ihren Preis,
durchs Klostertor gestoßen in den Straßendreck.
Er läuft zurück nach Padua in sein Versteck.Vier Jahre später ist er blind und tappt durchs Zimmer:
Bleibt mir vom Hals mit Schwerkraft, Wahrheit, Wissenschaft für immer.
Alles ist schwarz. Sie hatten Recht. Und nichts, das sich bewegt.
Nur Galileo Galilei, der sich zum Sterben in sein Fenster legt.
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