Die kunstvollen Masken des Ich
Die Liebeswirren, die Wanderjahre, und nun der Tod – oberflächlich betrachtet könnte man meinen, Tomas Espedal schriebe an einer sich über Jahrzehnte erstreckenden Reality-Soap. All das natürlich auf einem hochpoetisch veredelten Niveau. Und dennoch: Das Wühlen in den eigenen Befindlichkeiten, das Bemühen um Authentizität hinterlassen leicht einen schalen Beigeschmack. Zum Glück ist Espedal sich diesen Gefahren voll bewusst, mehr noch: er arbeitet mit ihnen auf durchaus raffinierte Weise.
Die richtigen Worte zu finden für den Moment des Verliebens, des sich Verlierens in einem anderen, dürfte ebenso unmöglich sein wie für den Verlust eines geliebten Menschen. Das notwendige Scheitern an der Sprache ist nicht nur mit einkalkuliert, vielmehr scheint es der Motor zu sein für jeden neuen Satz. „Schonungslos“ und „radikalautobiografisch“ wurde Espedals Prosa genannt, die sich irgendwo zwischen Tagebuch, Essay und Roman bewegt. So auch sein soeben auf Deutsch erschienenes Buch „Wider die Kunst“, das in Norwegen bereits 2009 einige Preise abräumte.
Innerhalb eines Jahres sterben seine Mutter und seine Frau; Espedal bleibt zurück mit der 15-jährigen Tochter. Zunächst sucht er Zuflucht in Routinen, im verzweifelten Anklammern an das Erbe seiner Lebensgefährtin. Obwohl es dort zugig und klamm ist, bemüht er sich, ihr altes Haus auf einer kleinen Insel vor Bergen wohnlich zu machen. Tagsüber kocht und putzt und wäscht und räumt er, nachts schreibt er wie besessen. Eine Weile lang scheint es, als könne ihn dieser übersteigerte Aktionismus tatsächlich davor bewahren, den Verstand zu verlieren. Doch seine Fragilität holt ihn immer wieder ein: Zerstört etwas seine Routine – wie etwa die Hundemeute, die ein Grundbesitzer während eines Spaziergangs auf ihn hetzt – gerät sein gesamter Tagesablauf durcheinander, und etwas in seinem Inneren bricht zusammen. Plötzlich erscheint die Zukunft über die Maßen bedrohlich. Die ältere Tochter ist schon ausgezogen, und auch die jüngere geht mehr und mehr ihrer eigenen Wege. Ein normaler Prozess, doch für ihn kaum erträglich: „Ich warte darauf, verlassen zu werden.“
Bisweilen erinnert das akribische Ausloten des eigenen Schmerzes an Joan Didions „Blaue Stunden“ Hat diese Art von Prosa etwas Narzisstisches, Exhibitionistisches? Auf jeden Fall. Selten jedoch erreichten literarische Selbsttherapien ein derartiges reflexives Niveau wie bei Didion und Espedal. Dies ist – bei beiden – vor allem einer schlichten, von Auslassungen durchzogenen Sprache zu verdanken, die dem Sentimentalen erfolgreich entgegenwirkt.
Während Espedal immer tiefer in seine Biografie eintaucht, erleben wir zugleich, wie sich aus dem manischen In-eine-andere-Welt-Hineinschreiben der ersten Jahre allmählich ein eigener Ton herauskristallisiert. Stets ist das Scheitern der zentrale Schreibimpetus – angefangen bei der unglücklichen Liebe zu einer Mitbewohnerin im Studentenwohnheim in Kopenhagen, bis hin zu den tragischen Verlusten, mit denen sich das vorliegende Werk befasst.
„Wider die Kunst“ erzählt auch vom Fremdsein vor sich selbst – der Zweiteilung in Autor und Vater („Meine Maske, sie ähnelt meinem Gesicht, das ist das Kunstvolle an ihr“), dem widersprüchlichen Ineinanderfließen von Leben und Kunst, zweier Größen, die sich gegenseitig zu verdrängen scheinen und zugleich bedingen.
Während sich die Trauer um zwei geliebte Menschen überlagert und potenziert, schieben sich auch die Zeitebenen in einer nicht immer leicht zu entwirrenden Weise ineinander. Ähnlich wie seine Großmutter, die er traditionell jeden Freitag zum Frühstück besucht, in mehreren Zeiten zugleich zu existieren scheint. Sie nennt ihn Eivind oder Alfred, erkennt in ihrem Enkel also die Kontinuitäten seiner Herkunft zweifelsfrei wieder, die Espedal selbst erst vage zu spüren beginnt.
Eines Nachts wacht er auf und meint, den Arm seiner Mutter neben sich liegen zu sehen. Die eigenen Gliedmaßen werden ihm zusehends fremder, dafür die Schichten der Vergangenheit lebendiger. Sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater: Sie alle waren Männer der Arbeit, verschlissen, müde und zu ausgelaugt, um sich um die emotionalen Bedürfnisse ihrer Familien zu kümmern. Die ständige Sorge vor Geldnot hat Espedal geerbt: „Ich schrieb, als wäre ich in einer Fabrik angestellt.“
Auf der anderen Seite seine aufstiegswillige Mutter aus einer guten Familie, die anfangs nur deshalb mit Espedals Vater in spe ausgeht, weil sie möglichst all das tun will, was die Eltern ihr verboten haben.
Von Anfang an besteht eine Kluft innerhalb der Kleinfamilie, die sich nie ganz schließen wird. Über seine Mutter schreibt Espedal: „Wir liebten sie, verstanden sie aber nicht, und vielleicht galt dasselbe für sie.“ Zugleich aber hat auch er selbst ein Stück des Fremdheitsgefühls geerbt, das seine Mutter ihr Leben lang plagte: den diffusen Wunsch, jemand anders oder an einem anderen Ort zu sein.
Indem er alternative Möglichkeiten seiner Familiengeschichte im Kopf durchspielt, wird er sich der hauchdünnen, verletzlichen Linie, die zu ihm führt, wirklich bewusst: „Hätte meine Großmutter bekommen, was sie wollte, so gäbe es mich nicht.“ Und könnte es nicht sein, dass in irgendeinem Paralleluniversum ein Mann im etwa selben Alter beim Durchblättern der Fotos seiner Mutter auf die Zeugnisse einer ersten Liebe stößt, die in dieser Version der Geschichte jedoch eine verworfene Möglichkeit darstellen?
Espedal findet Trost im Erzählen und Konstruieren seiner eigenen Geschichte, und wir erfahren ganz nebenbei nicht nur eine Menge über seinen persönlichen und literarischen Werdegang, sondern auch über die norwegische Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Eine ganz entscheidende Rolle, so wird schnell klar, spielen Familiennamen und Wohngegenden. Nachdem seine Mutter es vierzehn Jahre in einem Wohnblock aushielt, erfolgt endlich der lang ersehnte Umzug in ein Reihenhaus in einem besseren Viertel der Stadt. Es ist das Haus, in das am Ende des Buches der Autor mit seiner jüngsten Tochter einziehen wird. Seine ehemalige Schreibstube wird wieder Jugendzimmer; ein Kreis schließt sich
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