Überraschende Blicke auf Venedig
Venedig ist ein Fisch, schreibt der Venezianer Tiziano Scarpa über seine Stadt und bezieht sich damit auf den Grundriss von Venedig, dem jahrhundertelange Bautätigkeit diese Form und somit das passende, poetische Bild für eine Stadt im Wasser gegeben hat. Auch Herausgeber Tom Schulz schreibt in seinem Nachwort, man könne sich die Lagunenstadt als poetisches Gebilde vorstellen:
Die Häuser und Paläste Verse, dazu der mehr oder weniger bindende Reim der Planken und Pfähle im Rhythmus des Wassers, darin die Boote wie Ausrufezeichen, Kommas oder Doppelpunkte, und die Inseln als solches, eine Ansammlung von Strophen, verbunden mit dem Meer.
Man könnte sich Venedig allerdings auch anders annähern. Welchen Sinn hat die Dichtung? / Schreiben über das, was alle längst wissen, sagt der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan in seinem neuen Roman Mesopotamien. Und ist über Venedig nicht längst alles gesagt? Vieles ja, aber nicht alles, möchte man antworten, und schon gar nicht, nicht, wenn es um Gedichte geht. Denn, um wieder Tom Schulz zu zitieren, das Gedicht ist nicht zeitlich fixiert, wie alle Kunst versucht es, den Augenblick festzuhalten, ihn zu dehnen. Der zweite Herausgeber Ron Winkler sekundiert im Vorwort:
Dem Venedig der anderen lässt sich immer eine eigene, eine intrinsische Innigkeit abtrotzen. Auch das zeigen die Gedichte.
Tatsächlich ist es erstaunlich, wie unterschiedlich dieses Venedig beschrieben wird. Dass es dabei oft auch darum geht, was die Stadt mit dem Autor macht, wie er ihr und sie ihm begegnet, versteht sich von selbst. Dazu trägt auch bei, dass die Sammlung, die 117 Gedichte enthält, Stimmen aus verschiedenen Jahrhunderten und zeitgenössische Lyriker sowie Lyrikerinnen unterschiedlichen Alters berücksichtigt. Dabei haben die Herausgeber, wie bei den Textnachweisen zu lesen ist, offensichtlich großen Wert darauf gelegt, auch dann passende Texte zu nehmen , wenn es ihnen trotz intensiver Nachforschungen nicht gelungen sei, den heutigen Rechtsinhaber zu ermitteln.
Natürlich enthält die Sammlung viele große Namen. Ungeordnet und völlig willkürlich seien Johann Wolfgang von Goethe, Hermann Hesse, Ingeborg Bachmann, Rose Ausländer und Friederike Mayröcker genannt.
Alle haben ihren eigenen Blick. Helga M. Novak eröffnet den Band. Sie lässt sämtliche Sehenswürdigkeiten außer Acht und schreibt über einen Garten, in dem Marco Polo geboren wurde:
grüne Zitronen
so viel Regen ist heruntergefallen
mitten auf die Stadt im Meer
so viel Wasser in unseren Haaren
in unseren Augen das Grün
der unreifen Zitronen im Garten
wo Marco Polo geboren ist
dort haben wir sie gestohlen
ich habe sie gepflückt und du hast
im Sprung die Zweige heruntergezogen
drei Stück und fast noch grün
so viel Wasser in meinen Augen
als ich die Baumkronen sah
Paul Heyse hat das Schlusswort in dem Gedichtband. In seinem Sonett ist Venedig die personifizierte stolze Wellenbraut.
Das Meer umwirbt die Braut mit Liebeswut,
Doch nur die Füße darf es ihr umfassen
Und schleicht beschämt von dannen lang vor Tag.
Helga M. Novak und Paul Heyse bilden also den Rahmen der vielen Gedichte, in denen man sich verlieren kann, wie Nora Grominger:
In der Stadt des Wassers
Besitze ich kein Boot
Hinter jeder Biegung
Verliere ich mich
Und dich
Wäscht der Regen
In den Kanal
Auch Rainer Malkowski beschreibt einen Kanal, allerdings einen Nebenkanal, der nur scheinbar / eine abseitige Existenz ist. Von einen wiederum völlig anderen Kanal, nämlich von einen sprachsplitterkanal spricht Armin Steigenberger: der ugly amici aufgetürmte dogenpalazzi / über prima colazione möwenflatternd cawing.
Bleibt noch Venedig und die Liebe. Als Beispiel sei Kurt Drawert genannt.
Im gelben Licht seines Himmels
ist Venedig die Geschichte
der Liebe, die ein Gondoliere
für höfische Witwen
erfand.
Vieles könnte man noch benennen, zitieren, loben. Abschließend soll Durs Grünbein mit seiner eher prosaischen Lyrik zu Wort kommen:
Schlaftrunkene Frage: Warum Venedig? So muss ein Wasserspeier,
Ein Faun aus Bronze sich fühlen, während sie nebenan beichten.
Die vorliegende Anthologie ist ein schönes Buch, inhaltlich und durch die Fotografien im Inneren des Bandes auch äußerlich. Der oben angeführte Tiziano Scarpa schreibt, man solle sich in Venedig ruhig verirren. Vielleicht gelingt das dem Leser auch auf den Wegen der Poesie.
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