Das Buch Mit Dem Langen Titel
Ich habe die zirka1 59 Gedichte in diesem Band als ein einziges Langgedicht gelesen; weniger als einen Epos denn vielmehr als lange, lange Elegie. Ob ich dem Text resp. den Texten Ulrike Almut Sandigs damit Unrecht getan habe, kann ich nicht sicher sagen, glaube es aber nicht, denn: Der Band hat sich mir aufs Zwangloseste erschlossen, und die Gliederung, wie die Autorin und/oder der Verlag sie vorgenommen haben, kommt ihrerseits ohne erkennbare Titelzeilen aus. Bloß Prolog, Zwischenspiel und Coda sowie die vier Großabschnitte zwischen diesen sind gesondert bezeichnet -- und zwar so, dass ihre Namen, von I über δ bis IV aneinandergereiht, den wie gesagt langen Titel des ganzen Bandes ergeben:
α Anfangsland
I ich bin ein Feld voller Raps
II verstecke die Rehe und leuchte
δ wie
III dreizehn Ölgemälde
IV übereinandergelegt
ν Niemandsland
Die einzelnen Texte sind geprägt von einem spürbar ungebrochenen Vertrauen in die lyrische Form selbst und in das Vorhandensein eines Adressaten dieser Form. Ein solches Vertrauen muss selten oder seltsam erscheinen: Üblicherweise verdankt es sich, wenn es uns sonstwo unterkommt, der schieren Unkenntnis darüber (bzw. vorsätzlichen Ignoranz demgegenüber), was sich in den letzten hundert Jahren geschichtlich, literarisch, literaturtheoretisch so getan hat im deutschsprachigen Raum ... Den Verdacht einer solchen Unkenntnis bzw. Ignoranz können wir im Falle Sandigs indes nicht aufrecht erhalten; die Autorin räumt ihn uns gleich mal auf der ersten Seite von Abschnitt I ab:
Die Einzeiler am Anfang und Ende dieser Seite beinhalten beide die Wortfolge "Freunde, versteht" und sagen uns also, dass wir jetzt gefälligst mit-denken sollen. Dazwischen stehen dann zwei dreizehnzeilige Strophen (ostentativ frei von leicht zu zählendem Versmaß, aber so um den Dreh von plusminus vier ca. Daktylen herum), deren erste psychedelisch-vage das ganze bekannte Meta-Zeug mit unzuverlässigem Textsubjekt, Fragmentierung in Augenblicken, Preziosen zwischen Bildungsschatz und Biographie runterdekliniert, bisschen Landschaft mit Reh, bisschen Jagdschloss, die ontische (nämlich: kurzhaarige) Autorin wird angetäuscht --
(...)
seht ihr mein kurz geschnittenes Haar? ich lass es
flattern im Winde. ich bin ein Text, der zum Ende hin
ausfranst (...)
-- uuund kaum ist dieses alles also ausgebreitet, biegt das Gedicht in eine ganz ganz unerwartete zweite Strophe ein. Und die macht uns dann unzweideutig klar, dass die vorliegenden Gedichte, so meta sie auch schweben und so komplex sie Material mehrfachverwerten können, ganz klar Teil dieser unserer inakzeptablen Mord- und Totschlagwelt sein werden. Bildungs-Chinoiserie und die Schrecknisse der letzten hundert Jahre Geschichte/Text/Theorie also gehören zum selben Bild, und damit komm dann mal klar. Wo waren wir? Ach ja:
(...)
ausfranst, ein Stück nur von einem Soldatenseine Brauen, die Waden oder sein Galgenhumor
den er schließlich verlor, als er den Schießbefehl
an eine klägliche Reihe zu junger Soldaten nicht
erteilte, weil in der noch kläglicherne Reihe vor ihm
eine Schwangere stand. ich bin die Schwangere
ich bin die Reihe von dreizehn Gewehren, ich bin
ein Kriegsverräterprozess. ich bin kein artiges Kind
das darf nur heimlich lösen sein Haar und lassen
es flattern im Wind! ich bin ein Fant, der spinnerte
Wind, das himmlische Kind, und ich drehe mich
um einen Turm mit hohem Balkone auf dem
eine Frau steht und still und heimlich ihr Haar löst
aber nein, diese Frau bin ich nicht, bin ich dochwill ich nie wieder sein. meine Freunde, versteht
Dieses erste Gedicht des Bandes (das "Anfangsland" mal außen vor) wird nicht das letzte bleiben, in dem der Umstand Bedeutung erlangt, dass es die Macht über Leben und Tod gibt, die aus den Gewehrläufen und aus dem Gesetz der größeren Zahl kommt, und dass, mit ihr sich irgendwie zu arrangieren, zu den Gründungsskandalen jener abstrakteren, wohlstandskindlicheren Arrangements gehört, die wir nur haben können, weil unsere Sklaven und sonstigen Opfer eben eine halbe Welt weit weg krepieren.
Wobei: Der Abstand schrumpft; sie kommen näher; die Opfer selbst genauso wie die Risse im Arrangement. Im dritten Kapitel dieses Buches wird es einen Textblock geben, der heißen wird "fast dreizehn Fragen über Idomeni, 2016 AD". Und Kapitel IV, "übereinandergelegt", funktioniert hauptsächlich über das im Namen versprochene Übereinanderlegen von nämlich einerseits grimmschen Märchenmotiven und andererseits "heutigem" Katastrophenzeug; funktioniert mithin als Illustrationssammlung zu der Vermutung, dass die Widerkehr des massenhaften Elends nach Europa, die Widerkehr jener ganz unmittelbar-brutalen Herrschaftsweisen, gegen die wir mal die Moderne in Stellung gebracht hatten -- dass also diese Widerkehr zugleich die Widerkehr der Märchen ist, der narrativen Ordnung in der sozialen Wirklichkeit; die Herrschaft des Symbolischen übers bloß Gegenständliche...
Alles das geschieht in Sandigs hervorragendem Gedichtband neben so manchem anderen, worauf ich an dieser Stelle nicht sinnvollerweise auch noch eingehen kann. Wer nun mag, kann gern übers "Kulinarische" der wohlgefügt dargelegten Gewalttaten mäkeln (könnte mit denselben Argumenten aber auch Celan aus dem Lyrik- und True Detective aus dem Serienkanon werfen); kann auch die den Band durchziehende Insistenz auf die rettende Subjektivität kritisieren, die zwar draußen, in der "Wüste des Realen"2 nichts ändern oder besser machen kann, aber die allenthalben transformiert, was anders nicht zu retten ist ... aber damit sind selbst die möglichen Einwände gegen das Buch Mit Dem Langen Titel auf einem Niveau zu suchen, auf welchem schon lange keine Gedichtbände diutiscer Zunge verhandelt wurden.
Anmerkung der Redaktion
Buchpremiere: 08. September 2016 | 20.30 Uhr
Ulrike Almut Sandig präsentiert ihren neuen Gedichtband
ocelot, not just another bookstore, Berlin
Moderation: Ron Winkler
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