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Kritik

Von der Reichhaltigkeit des Nichts

Hamburg

„[...] vermutlich ist ein Mensch nur in zwei Räumen wirklich zu Hause“,

schreibt Valeria Luiselli in ihrem Essayband „Falsche Papiere“: im Haus der Kindheit und im Grab.“

Zwischen diesen Räumen aber gibt es die Literatur, als Medium der Verwandlung. Womit die Eckpunkte abgesteckt wären, zwischen denen sich Luisellis Essays bewundernswert geistreich bewegen.

Luisellis scharfsinnige Betrachtungen entspringen einfachen Alltagssituationen. Die Fahrt mit dem Rad zu einem Buchladen wird zum Auslöser über sprachphilosophische Überlegungen, Bauarbeiten in dem Haus, in dem sie lebt, führen zu stadtsoziologischen und architektonischen Betrachtungen, die schließlich zur Entdeckung der „Relingos“ führen. Gemeint sind damit ungenutzte Freiflächen in der Stadt, „Leergrundstücke mit unbestimmten Rändern, ohne feste Abgrenzung.“ Luiselli vergleicht Städte mit Büchern und macht diese Vergleiche auch für das Schreiben fruchtbar. „Schreiben ist ein umgekehrter Restaurierungsprozess. [¡K] Schreiben: Mauern niederreißen, Fenster einschlagen, Gebäude in die Luft sprengen. Tiefe Ausschachtung um was zu finden? Nichts zu finden.

Schriftsteller ist einer, der Schweigen und Leere anordnet.

Schreiben: dem Lesen eine Lücke schaffen.

Schreiben: relingos schaffen.“  

Zwischen Mexiko-Stadt und Venedig bezieht Luiselli immer neue Zimmer, um schließlich bei einer Reise nach Venedig krankheitsbedingt „falsche Papiere“ zu erhalten. Elegant gehen die Essays ineinander über, knüpfen an vorbereitete Gedanken an, spinnen sie fort. So pflanzen sich die Lücken, die relingos bei einem Umzug in das eigene Gesicht fort. „Mein Gesicht ist voller Lücken“, schreibt Luiselli.

Ihren Ausgangspunkt nehmen Luisellis Betrachtungen über das Leben während eines Spaziergangs über die Friedhofsinsel „San Michelle“ in Venedig. Dort sucht sie das Grab Brodskys, das sie schließlich neben seinem Erzfreind Ezra Pound findet, das Nachdenken darüber, ob Brodsky dort beerdigt sein wollte, führt sie zu dem Schluss: „Wenn der Wille und das Leben zwei untrennbare Dinge sind, dann sind Tod und Zufall es ebenso.“

Mexiko-Stadt, dem zweiten Ort, der als Ausgangspunkt ihrer Essays dient, nähert sich Luiselli zunächst mit dem Flugzeug, bevor sie die Stadt mit dem Fahrrad durchquert. „Das Fahrrad ist auf halbem Weg zwischen dem Automobil und dem Schuh angesiedelt; seine leichte Schnelligkeit erlaubt es demjenigen, der es fährt, die fußgängigen Blicke hinter sich  zu lassen und von den motorisierten Blicken hinter sich gelassen zu werden. So ist dem Radler eine außerordentliche Freiheit gegeben: die der Unsichtbarkeit. Die hybride Natur seines Fortbewegungsmittels bewahrt ihn vor jeglicher Überwachung.“

Auch ihre Überlegungen zum portugiesischen Begriff „saudade“ stellt Luiselli auf dem Fahrrad an. Mit dem Fahrrad begibt sie sich zu einer Buchhandlung, in der sie eine portugiesische Grammatik erwerben will, stattdessen aber brasilianische Lyrik und eine Postkarte kauft. Während es draußen heftig zu regnen beginnt, sitzt sie im Buchladen und denkt über das Wesen der Sprache nach, über die Unübersetzbarkeit mancher Begriffe, weil diese voll und ganz zu einem bestimmten Kulturkreis, einer Sprache und dem damit verbundenen Lebensgefühl gehören. Aber Luiselli sieht in dieser Unmöglichkeit des Übersetzens einen Raum für die Fantasie, eine besondere Möglichkeit für denjenigen, der nicht wortwörtlich versteht.

„Wenn wir eine Sprache nur halb verstehen“, schreibt sie, „füllt die Vorstellungskraft den Sinn eines Wortes, eines Satzes oder Absatzes auf wie in jenen Malheften, in denen es nur Punkte gab, die wir als Kinder mit einem Buntstift verbinden mussten, um das Bild als Ganzes zu entdecken. Ich verstehe nicht Portugiesisch, oder ich verstehe es nur so lückenhaft wie jeder, der Spanisch spricht. Sage ich „saudade“, wird es immer so sein, als füllte ich die Lücken zwischen den fremden Punkten.“

In einem anderen Essay bezeichnet Luiselli Sprache als Bruch mit der ursprünglichen Verbindung zur Welt, die ein Baby mit seinem Gebrabbel eingeht. „Ein Kind sagt, bevor es Sprechen lernt, die Welt sagt sich selbst mit dem Zeigefinder und mit Gebrabbel. Eines Tages aber paart sich das einlullende „M“ mit dem „A“ und verdoppelt sich - „Mama“. Dann zerbricht etwas. In dem Augenblick, in dem wir den Namen von diesem Bund, dem ersten und innigsten, aussprechen, zerbricht endgültig eine Verbindung mit der Welt.“

Das Selbstverständliche wird langsam zu einer Sache des Verstandes, aus der großen Einheit wird die Differenzierung.

Venedig, die Stadt, die Luiselli zufolge am ehesten einem „gebrochenen Knie“ ähnelt, bleibt bei den Betrachtungen zentral. Luisellis Gedankenreise verläuft zwischen Mexiko Stadt und Venedig als Bezugspunkt zu dem die Essays immer wieder zurückkehren, angefangen mit der Suche nach Brodskys Grab, unterbrochen von Aufenthalten in Mexiko Stadt, entlang seiner unterirdischen Flüsse und architektonischen Leerstellen (Relingos), bleibt Venedig so zentral wie Mexiko, denn hier hat Luiselli nicht zuletzt ihre „falschen Papiere“ erhalten, hierher ist sie gereist, um mehr über Brodsky zu erfahren, und zu erkennen, das sie unter diesem Vorwand lediglich mehr über sich selbst erfahren kann, was überhaupt kein Widerspruch ist, vielmehr die einzige Möglichkeit, etwas über andere Menschen zu begreifen (und Luiselli versteht es meisterhaft diese Grenzen zwischen Selbsterkenntnis und dem Spurenlesen fremder Leben zu verwischen, wie sie in ihrem Roman „Die Schwerelosen“ bewiesen hat.)

Falsche Papiere, das sind letztendlich alle Papiere, die wir beschriften, weil die Sprache (nur) das Medium ist, um von einem Bereich in den anderen zu gelangen, über Grenzen zu gehen, nicht um irgendwo anzukommen. Und Luiselli ist eine, die über Grenzen geht. Mit falschen Papieren, oder schwerelos. Aber immer brillant.

Valeria Luiselli
Falsche Papiere
Übersetzung:
Dagmar Ploetz und Nora Haller
Antje Kunstmann
2014 · 128 Seiten · 16,95 Euro
ISBN:
978-3-88897-936-1

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