Durchsehen, blättern, streicheln, kennenlernen
„Es gibt drei Wologdas: die historische Stadt, die Provinzhauptstadt und die Stadt der Verbannung. Mein Wologda ist das vierte“. Nach dieser kurzen Hinführung beginnen sich im Text Bilder aus der Kinderzeit und Jugend Warlam Schalamows (1907-1982) zu entfalten. Schalamow weist gleich zu Beginn dieser Aufzeichnungen darauf hin, daß er diese Rückblicke an die Anfänge seines Lebens erst im vierundsechzigsten Lebensjahr niedergeschrieben hat. Dazwischen lag ein geradezu monströses Schicksal. Nahezu zwanzig Jahre seines Lebens hatte Schalamow in sowjetischen Gefängnissen, Straflagern und in der Verbannung zugebracht.
Der besondere Charme dieser vorliegenden Kindheits- und Jugenderinnerungen lebt nicht zuletzt von Reminiszenzen an eine russische Welt, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Schalamow betont nicht ohne eine gewisse Genugtuung, daß das nordrussische Städtchen Wologda durchaus mit einem eigenständigen Charakter gekennzeichnet war. Da seit jeher unbotmäßige Zeitgenossen in dieser Gegend verbannt worden waren, hatte sich zugleich auch ein trotziges, ja unabhängiges Selbstverständnis festgesetzt. Schalamows Auseinandersetzung mit Autoritäten bezieht sich allerdings zunächst auf seinen Vater, einem orthodoxen Priester. Dieser Vater hatte für damalige Verhältnisse einen geweiteten Blick, da er zwölf Jahre lang in Alaska eine orthodoxe Gemeinde betreut hatte. In all seiner Widersprüchlichkeit war dieser Priester zudem auch ein Anhänger sozialrevolutionärer Gedanken. Die Lektüre von Gedichten und Prosa lehnte er hingegen als nutzlosen Zeitvertreib ab. In der abgedruckten Erzählung „Wörishöffer“ beschreibt sich Schalamow im Alter von zehn Jahren, als ihn der Vater auf die Fürsprache des Geographielehrers hin einer betagten Dame, einer ehemals Verbannten, zuführte, um deren Bibliothek kennenzulernen: „Lange Reihen von Bücherregalen verloren sich in der Tiefe, in der Unendlichkeit. Ich war bewegt und ergriffen von diesem Glück. Jetzt wird man mich zu den Büchern führen, und ich werde sie durchsehen, streicheln, blättern, kennenlernen“. Der begabte und wissbegierige Schüler Warlam Schalamow liebte die Literatur und nahm zugleich das ganz reale Leben im unmittelbaren Umfeld seiner Familie und seiner Provinzstadt Wologda in hellwachem Bewußtsein zur Kenntnis. Einen gnadenlosen Einschnitt in sein Leben und zugleich auch in die Entwicklung seiner russischen Heimat bildeten die Umstürze und Revolutionen von 1917. Ein unablässiger Kampf der Ideen in Rußland war in reale Gewalt umgeschlagen, nichts sollte mehr so sein wie vorher. 1918 waren auch in Wologda Tag und Nacht Verfolgungen und Verhaftungen im Gange. Es herrschten Unsicherheit und Willkür. „Eine meiner widerwärtigsten Erinnerungen ist der Besuch unserer Wohnung durch Bauern aus den nahen und auch ferneren Dörfern. Die neuen Herren der Welt schmatzten mit den schmutzigen Filzstiefeln, drängelten und lärmten in unseren Zimmern und trugen unsere Spiegel hinaus. Nach den Visiten waren alle Möbel verschwunden“.
Es ist gerade der sachliche, nüchterne Stil in Schalamows Erzählungen, der unsägliches Leid wie auch das Ausmaß menschlicher Niedertracht und Verrohung besonders eindrucksvoll zur Darstellung bringt. Pointiert setzt Schalamow knappe Dialoge ein, vermag es aber auch, überraschend bildhafte Beschreibungen zu liefern. Frei von theatralischem Pathos wirken Schalamows Erzählungen sozusagen erst im Nachhinein.
Schalamows „Erinnerungen“ aber auch seine Prosaskizzen „Das Moskau der 20er und 30er Jahre“ bestechen durch ihre lebendige Beschreibung einer aufregenden Epoche. Souverän werden Namen und Berichte über das bunte Geschehen einer Zeit angeführt, die unablässig in Bewegung schien. Das damalige Moskau bezeichnet Schalamow als eine „Universität der Kultur“. Als Augenzeuge hatte er die lebhaften öffentlichen Auftritte und Diskussionen von Künstlern aber auch Politikern wie etwa Anatolij Lunatscharskij, dem ersten sowjetischen Volkskommissar für Bildungswesen, erlebt und sich von der allgemeinen Begeisterung über die Errichtung einer neuen Welt anstecken lassen. Bald jedoch sollte sich Ernüchterung einstellen. Die ideologische „Umschmiedung“ zum „neuen Menschen“ erzeugte jenen gnadenlosen Diskurs von „Volksfeinden“, „Parteidisziplin“ sowie „Spionen und Verrätern“, wie er sich auch im heutigen Russland noch nachweisen läßt. 1929 war Warlam Schalamow als junger Jura-Student zum ersten Mal wegen „konterrevolutionärer Agitation“ angeklagt und zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Im Jahr der großen Säuberungen, 1937, war er abermals verhaftet und zu fünf Jahren Lager verurteilt worden. Aufgrund einer Denunziation im Lager war sein Strafmaß um weitere zehn Jahre verschärft worden. Erst nach Stalins Tod im Jahr 1953 war Schalamow entlassen und 1956 rehabilitiert worden.
Wenn heute in Russland junge Menschen mit patriotischem Stolz davon sprechen, daß unter der Herrschaft von Josef Stalin die Sowjetunion ein starkes und international respektiertes Land gewesen sei, werden Schicksale wie jenes von Warlam Schalamow ein weiteres Mal der Verachtung preisgegeben. Den vermeintlichen Patrioten fehlt die Fähigkeit zu begreifen, daß das Ignorieren oder gar Leugnen monströser Verbrechen unausweichlich die weiteren Geschicke des eigenen Landes vergiftet.
Schalamows Erlebnisse und Reflexionen der Schreckenswelt des sowjetischen Lagerkosmos wurden bereits in sechs Zyklen der „Erzählungen aus Kolyma“ vorgelegt. Mit „Das vierte Wologda“ bildet auch der fünfte Band dieser verdienstvollen Werkausgabe ein würdiges Gedenken an einen großen russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Ein weiteres Mal überzeugt die hervorragende Übersetzungsleistung von Gabriele Leupold sowie die sorgfältige Aufbereitung durch kundige Anmerkungen nebst einem Glossar. Ein ausführliches Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein gibt wertvolle Auskünfte über „Warlam Schalamows autobiographische Szenen“.
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Kommentare
Wieviel junge Leute kennt der
Wieviel junge Leute kennt der Buchkritiker denn in Moskau, dass er weiß wie die über Stalin denken?
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