Ausnahmezustand: Alltag. Alltagszustand aber: Ausnahme.
Alle, ausnahmslos alle haben es gelobt: Tschick. Ja, sagte ich dann immer, ja: Steht auf der Liste. Ich habe das ernst gemeint. Dann kam Sand und zog noch größere Kreise. Preis der Leipziger Buchmesse, in Frankfurt immerhin Shortlist. Ja, dachte ich mir, wenn Tschick hält, was alle versprechen… Ja: Warum nicht? Trotzdem habe ich keines der beiden gelesen. Die Zeit verstrich. Im späten August dann ging ein Tweet durch meinen Facebook-Feed:
@kathrinpassig
Wolfgang Herrndorf starb nicht am Krebs. Er hat sich gestern in den späten Abendstunden am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.
Ohne ein Buch von Herrndorf gelesen zu haben oder gar ihn persönlich kennengelernt zu haben, musste ich schlucken. Denn das Gefühl, ihn zumindest ein bisschen zu kennen, hatte ich durchaus. Ab und zu nämlich las ich in seinem Blog, Arbeit und Struktur.
Mehr als drei Jahre, bis zu seinem Suizid, bloggte Herrndorf dort. Seit der Diagnose vom bösartigen Hirntumor und dem folgenden psychischen Zusammenbruch, nach welchem er sich im Pinguinkostüm in der Psychiatrie einweisen ließ. So viel Selbstironie musste schon sein.
Auf Arbeit und Struktur schimpfte Herrndorf über seinen Telefonanbieter, ätzte gegen Thor Kunkel, berichtete von seinen fußballerischen Leistungen und verabschiedet sich lakonisch von seinen Haaren. Dokumentierte, welche Medikamente er in sich stetig erhöhender Dosis einnahm. Schilderte epileptische Anfälle. Beschrieb den Verlust seiner Sprachfähigkeit in einem beklemmend knappen und bewundernswert eleganten Stil. Sprach immer wieder fast zärtlich von seiner Waffe.
Natürlich ging es ums Schreiben, die strukturschaffende Arbeit. Tschick und Sand vollendete Herrndorf nach der Diagnose. Zuvor hatte er jahrelang Ideen gehortet, jetzt aber legte er los. Beide Romane vollendete er, beide wurden Bestseller. Herrndorf hatte wenig davon. Es schien, als würde ihm die Arbeit an den Texten mehr geben als die Fertigstellung. Die Aufgabe selbst, nicht ihre Vollendung.
Auf Arbeit und Struktur bedeutete Ausnahmezustand: Alltag. Alltagszustand aber: Ausnahme. Es war hart das zu lesen. Trotzdem klickte ich den Blog immer wieder an. Fasziniert von so viel Intimität, Verletzlichkeit und Schonungslosigkeit zugleich. Von so viel Pathos, Leid, Wut, Angst, aber auch Hoffnung, Leidenschaft, Witz und Lebenslust und so wenigen Zeilen. Herrndorf erzählte sein, aber auch von seinem Leben, war nahbar. Auf nahezu unerträgliche Art. Nach wenigen Posts schloss ich das Blog meistens. Nicht, weil ich mir wie ein Voyeur vorkam, das wäre albern gewesen. Sondern auch, weil mich eine vertraute paradoxe Gewissheit erfasste: Ich werde sterben. Ich lebe.
Knapp vier Monate nach Herrndorfs Suizid, es ist der letzte Samstag vor Weihnachten. Nach mehr schlecht als recht durchschlafener Nacht nehme ich das mehr als 400 Seiten starke Buch, in dem all diese Blogeinträge versammelt wurden, zögerlich vom Schreibtisch. Zurück ins Bett, Kaffee, Selbstgedrehte. Mal reinlesen. Mal sehen, wie das wird.
Ich weiß schon nach ein paar Seiten, dass mich diese Blogeinträge, die stellenweise aus kaum mehr denn vier, fünf Worten bestehen, nicht mehr loslassen werden. Nie losgelassen haben: Hin und wieder treffe ich auf Passagen, die sich bei meinen kursorischen Besuchen in Herrndorfs Leben eingebrannt haben. Das flaue Magengefühl grüßt mich wie einen alten Bekannten. Ich werde den Rest des Tages im Bett verbringen, beschließe, nein, weiß ich.
Arbeit und Struktur, das Buch, gräbt sich in mich rein. Mit jedem dieser perfekt formulierten Sätze, an denen nichts Überflüssiges ist und die in ihrer Knappheit trotzdem so viel zu sagen vermögen. »In den Badebuchten die Hand ins Wasser gehalten und den Eindruck gehabt, man könnte schon« ist einer von diesen kurzen Aussagen, die ich mir in mein Notizheft kritzel. Ohne zu wissen, wann und wo ich all diese Zitate je anbringen könnte. Sie stehen ja nicht für sich allein, sondern sind Teile einer Kette von Aussagen, die sich winden wie das Leben selbst.
Das nimmt mich am meisten mit. Dass so viel Leben in diesen Zeilen ist. Weil ich etwas davon mitnehmen kann. Klingt esoterisch. Ist mir egal. Weil wahr. Obwohl Herrndorf die Existenz Gottes, sogar der ganzen Welt wieder und wieder verwirft. An sich selbst zweifelt, in seine Depressionen abtaucht. Den Tod kommen sieht, im eigenen körperlichen Verfall. Irgendwann keine Hoffnung auf Jenseits oder Diesseits mehr in sich trägt. Aber trotzdem spazieren und baden geht, Urlaub macht, liest, Fußball spielt, sich unter Menschen mischt. Nicht, dass das unbedingt verwunderlich wäre. Trotzdem gleiche ich die Daten ab und frage mich, was ich zu den Zeitpunkten von Herrndorfs Einträgen wohl getan habe. Oder ob mein Lesen in diesen Phasen mehr war als die Summe von furchtbar alltäglichen Tagen.
Ziemlich genau zehn Stunden, nachdem ich Arbeit und Struktur vom Schreibtisch genommen habe, bin ich bei Herrndorfs letztem Eintrag, datiert auf den 20. August, 14 Uhr, angekommen: »Almut«. Gemeint ist die Musikerin und Autorin Almut Klotz, die fünf Tage zuvor starb. An Krebs. Sechs Tage später schiebt sich Herrndorf gegen Viertel nach elf Uhr nachts am Ufer des Hohenzollernkanals die Pistole in den Mund und drückt ab. Die Arbeit war getan, die Aufgabe vollendet.
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