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Kritik

Kein Anderswo

Ein haitianischer Dichter über seine Wurzeln
Hamburg

Was weiß man von Haiti? Gerade als ich dieses Buch las, forderte der Wirbelsturm "Matthew" tausend Tote in Haiti. Aufrufe zur Hilfe für Kinder und Obdachlose erreichten mich durchs Netz. Mehr weiß ich nicht und hoffe, etwas zu erfahren, wenn ich das Buch eines wichtigen haitianischen Autors lese und bespreche – Lyonel Trouillot, "Yanvalou für Charlie".

Ich muss sagen, ich bin so schlau wie vorher. Ja, Haiti ist ein furchtbar armes Land. Dazu entzieht sich das Buch allen Regeln. Die vier Kapitel sind Namen zugeordnet, in zweien spricht Kapiteln die Person hinter dem Namen. Im dritten Kapitel ist es eine Art auktorialer Erzähler, lange und vergeblich sucht man die Stimme hinter dem Namen Nathanael. Es gibt sie nicht, es ist eine Stimme von außen, nicht näher bezeichnet, ebenso ist unklar, woher sie alles weiß. Sie erzählt die Geschichte zum Namen, und alle vier Geschichten gehören natürlich zusammen.

Ja, es ist ein verdammt armes Land, die paar Vermögenderen versammeln sich in der Hauptstadt Port-au-Prince und versuchen zu vergessen, woher sie kommen. Wie Mathurin Saint-Fort, der als erfolgreicher Anwalt seine alten sozialen Kontakte ebenso abgeschnitten hat wie jenen Teil seines Namens, der ihn an seine Herkunft erinnert: Dieutor. Ausgerechnet mit diesem Namen spricht ihn ein abgerissener Jugendlicher in den Diensträumen der Anwaltspraxis an. Obwohl der Angesprochene noch daran denkt, den Wachmann zu verwarnen, der diesen für diesen Ort unpassenden Menschen durchgelassen hat, ist er doch gleichzeitig wehrlos. Denn diesen Namen kennen nur die Bewohner seines Dorfes. Er nimmt den Jugendlichen aus den Anwaltsräumen mit auf die Straße, um ihn möglichst schnell wieder loszuwerden, doch wenig später sitzen sie in einem Taxi zu seiner Wohnung. Und er hört sich Charlies Geschichte an, die Charlie nun selbst erzählt:

Er gehört einer Bande Jugendlicher an, die eigentlich in einem Heim wohnen, dem Pater Edmond vorsteht. Die Jugendlichen rauben Häuser aus, deren Bewohner auf Kurzurlaub sind. Und nun sind sie auf der Flucht. Pater Edmond, dessen Geschichten vom barmherzigen Jesus die Jugendlichen nicht überzeugen, schickt sie, als sie von der Polizei gesucht werden, weg und gibt ihnen die Adresse von Dieutor. Die anfängliche Abneigung gegen Charlie weicht, der Anwalt fühlt, wie sich eine Tür in seinem Innern öffnet – zu seiner Vergangenheit. Er wird fast selbst zu Charlie, jedenfalls kommen später, nach Charlies gewaltsamen Tod, dessen Worte aus dem Mund des Anwalts. Ein Freund Charlies ist Nathanael, dessen Geschichte – ebenso wie die des Endes der Jugendbande – aus dem Off erzählt wird. Es ist eine traurige Geschichte von Gewalt, Vernachlässigung und dem Willen zu überleben, Liebe zu leben. Im vierten Kapitel „Anne“ sind es Briefe von Anne an Dieutor und erneut seine Stimme. Anne war seine Jugendliebe, seine Gefährtin in Kindertagen, als sie auf dem Friedhof zu den Toten das Leben erfanden. Sie ist die Stetige, die im Heimatdorf geblieben ist, sogar ihr Mann ist ihr aus der Hauptstadt dorthin gefolgt. Das „Anderswo“ lockte sie nicht. Aus den Briefen spricht Vertrautheit, und der Anwalt wird ihr – Charlie zu Gedenken und Anne zum Beweis seiner Verbundenheit – das Grundstück seiner Eltern für einen Schulneubau überlassen, von dem Anne schon seit Jahren gemeinsam mit ihrem Mann träumt. Haiti gehört zu den ärmsten Ländern der Welt und hat eine der höchsten Analphabetismusraten. In den ländlichen Gegenden betrifft diese über die Hälfte der Kinder.

Lyonel Trouillot hat zehn Romane veröffentlicht. Er ist in Port-au-Prince geboren, verbrachte aber seine Kindheit mit den Eltern im Exil in den USA. Doch er kehrte nach Haiti zurück, wo er Jura studierte. Er kehrte, wie der Held seines Romans, zu den Wurzeln zurück. Seine Stimme gegen die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber seinem politisch, von Armut und jetzt auch von Naturkatastrophen gebeutelten Land, sie wird zumindest im Literaturbetrieb gehört: Trouillots Roman „Die schöne Menschenliebe“ wurde für den Prix Goncourt nominiert. Auch „Yanvalou für Charlie“ ist ausgezeichnet worden. Anne erklärt gegen Ende des Buches, was Yanvalou bedeutet:

Ich grüße dich, o Erde.

Ein Rondo also, eine Erinnerung an die Herkunft, die Charlie dem Anwalt brachte. Und die ihn nun wieder zu seiner Kindheit zurückführt, in das Dorf, aus dem er kommt.

Der schmale Roman ist im liebeskind Verlag erschienen, einem kleinen Verlag, der sich vor allem internationaler Literatur widmet. Die Übersetzung des Romans aus dem Französischen stammt von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz. Kein einfaches Buch.

Yanvalou Trouillot
Yanvalou für Charlie
Übersetzung:
Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz
Verlagsbuchhandlung Liebeskind
2016 · 176 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-95438-066-4

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