Арсений Александрович Тарковский
ЯВЬ И РЕЧЬ
Как зрение - сетчатке, голос - горлу,
Число - рассудку, ранний трепет - сердцу,
Я клятву дал вернуть мое искусство
Его животворящему началу.
Я гнул его, как лук, я тетивой
Душил его - и клятвой пренебрег.
Не я словарь по слову составлял,
А он меня творил из красной глины;
Не я пять чувств, как пятерню Фома,
Вложил в зияющую рану мира.
А рана мира облегла меня;
И жизнь жива помимо нашей воли.
Зачем учил я посох прямизне,
Лук - кривизне и птицу - птичьей роще?
Две кисти рук, вы на одной струне,
О явь и речь, зрачки расширьте мне,
И причастите вашей царской мощи,
И дайте мне остаться в стороне
Свидетелем свободного полета,
Воздвигнутого чудом корабля.
О два крыла, две лопасти оплота,
Надежного как воздух и земля!
Arsenij Tarkovskij, übs. v. Ute Eisinger
WIRKLICHKEIT UND SPRACHE
Wie zur Netzhaut das Sehen und zur Kehle die Stimme,
gehört die Zahl zum Verstand, das Zittern zum Herz;
und so hab ich meiner Kunst geschworen,
dass ich sie wieder zu ihrer Quelle bring.
Ich bog wie einen Bogen sie hin; hab mit der Sehne
sie gewürgt – und meinen Eid gebrochen.
Nicht ich hab Wort um Wörterbuch verfasst –
mich hat sein roter Lehm gemacht;
nicht ich hab meine Sinne wie Thomas die fünf Finger
in die offene Wunde der Welt gelegt;
vielmehr bedeckt die wunde Welt ja mich.
Das Leben lebt – auch ohne unseren Willen.
Warum wollt ich den Stab Gerade-Sein lehren,
den Bogen Biegen und den Vogel Vogelweide?
Ihr Hände, ihr zwei, an einer Saite bleibt,
o Wirklichkeit und Sprache, haltet mir die Pupillen offen,
dann nähm ich teil an eurer Königinnenkraft,
könnt auch beiseitetreten, nur
Beobachter des freien Flugs
des wundersam erhobnen Schiffs,
o, Flügel zwei, ihr beiden Schaufelräder
schafft das wie Erde und Luft!
Vom Würgen und Fliegen der Sprache.
Der Dichter war, als er das schrieb, 58 Jahre alt. Seine erste Veröffentlichung – sieht man von seinen bald nieder geschmetterten Anfängen nach dem Literaturstudium ab – lag zwar erst drei Jahre zurück, doch „Wirklichkeit und Sprache“ erweist ihn als reifen, überlegten, mit allen Erfahrungen des Dichterlebens ausgestatteten Menschen: Arsenij Tarkovskij (1907-1989), einer der letzten klassischen Dichter Russlands, hierzulande eher als Vater seines Sohnes Andrej wahrgenommen, des Regisseurs von „Stalker“, „Nostalghia“ und „Der Spiegel“, worin Arsenijs Gedichte eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Tatsächlich hat der Dichter für seine zweite Frau die Familie verlassen, als der spätere Filmpoet und seine Schwester Marina wenige Jahre alt waren.
„Wirklichkeit und Sprache“ – eher: „Wirklichkeit und Rede“ im Sinne der „langage“ nach Ferdinand de Saussure, um nicht zu sagen der Sprachkunst, des dichterischen Worts – ist 1965 geschrieben worden und 1969 erschienen. Arsenij Tarkovskij mag vielleicht kein öffentlich gefeierter unter den zahlreichen Dichtern der Sowjetunion gewesen sein, bekannt und vieldiskutiert war er in den interessierten Kreisen wohl – in der Stalin-Diktatur eine gefährliche Umgebung. Die angesehensten Dichterinnen der „Verlorenen Generation“ hatten mit dem der russischen Landschaft und Religiosität verpflichteten Tarkovskij Freundschaften gepflogen, ja ihm Gedichte gewidmet. Gemessen an der Ignoranz, die der im Zeitalter der Konsum- und Unterhaltungsindustrie kümmerlich erscheinenden Dichtkunst entgegengebracht wird, hatte seine Existenz etwas Leuchtendes.
Worum geht es in dem Gedicht? Ein Dichter überarbeitet sein Programm, versucht die fragwürdige Position zu bestimmen, die er zwischen Weltlichkeit und hehrem künstlerischen Anspruch einnimmt. Das führt zu einem Vergleich zwischen Vorhaben und State of the Art, der, unterm Strich, nicht übel ausfällt.
Aber langsam: Das Gedicht – zwar nicht regelmäßig, aber doch gereimt und einem sehr gezügelten, wenn auch nicht im Versmaß, Gang verpflichtet – hebt mit einer Bestandsaufnahme an: Welche Körperorgane gehören mit welchen Sinnen zusammen? Wobei die Frage nach dem Ursprung: Erst Henne oder Ei? – in der herrschenden Ideologie abgewandelt war zu: Materielles oder Ideelles? Hier wird sie umgänglich beantwortet mit: Sie gehören zusammen!
Man versteht das besser, wenn man sich vor Augen hält, dass die russische Sprache für „Besitz“ kein Verb bereithält: Um zu sagen: „Ich habe einen Bleistift.“, sieht die Sprache vor: „Mir ist ein Bleistift.“ Der Besitzende ist im dritten Fall, das Subjekt ist das Objekt, dessen Zugehörigkeit zur Debatte steht.
So betrachtet steht in der ersten Strophe da: Das Sehvermögen gehört der Netzhaut, die Stimme ist Eigentum der Kehle, die Zahl entspringt dem Verstand und jegliches ängstliche Flattern geht vom Herzmuskel aus. Soweit konstatiert der Dichter, dem man dreißig Jahre lang den Mund verbat, weil er entgegen der herrschenden Doktrin vom Sozrealismus „zu mystizistisch“ schriebe, die Verhältnisse. Und er hat, biologistisch gesehen, ja Recht. Aber.
Logisch wie materialistisch gedacht und gemäß der festgestellten Beziehungen erklärt der Dichter nun die Zugehörigkeit seiner Kunst, der Lyrik: Sie entspränge einem schöpferischen Urgrund – man kennt seine klassischen Vorbilder, die Dichter des Goldenen Zeitalters, Puschkin und Fet – und er hätte einen Treueeid geleistet, seine Fertigkeiten, sein Handwerk, so weit zu bringen, dass er seinen Lehrmeistern das Wasser reichen könne bzw. dass er die Sprache – die Ursprung und Quelle der Sprachkunst ist – hochhalte und gestalte. Denn auszuüben wofür man begabt ist, steht als Überbau hier, heißt sich der Tradition verpflichten und schöpferisches Tun bedeutet Hervorbringen von Entsprechendem.
Das ist der aus dem christlichen Mittelalter stammende Ethos des Handwerkers, wie der Ikonenmaler Andrej Rubljev im gleichnamigen Film von Tarkovskij junior, der eng mit dem ikonografischen Denken verbunden ist, zeigt: Gott ist, wenn sein Bild Gott ist. Das gilt freilich auch für Gedichte.
In Tarkovskijs Gedichten spielt die russische Landschaft die Hauptrolle. Sie enthält die russische Seele und die ist auch der Sitz des waltenden Schöpfergottes: dieses Credo trägt Tarkovskijs Dichtung – jüngst in Martina Jakobsons Übersetzungen „Reglose Hirsche“ (Edition Rugerup) nachzulesen. Die Hingabe des Dichters ist daher ein Lehnseid. Allerdings wird dieser Schwur nun – in „Wirklichkeit und Sprache“ – revidiert: Im folgenden Zweizeiler – von Strophe zu sprechen ist wohl nicht angebracht – vergleicht der Dichter sein Bemühen mit dem Spannen eines Bogens, das bekanntlich – man lese nach in der Odyssee, bei Ilya Kutik oder meinem Gedichtband „Bogen“ – eine große Kunst ist, die Voraussetzung für seinen Gebrauch schlechthin.
Doch der allzu handwerkliche, formale Anspruch, den der Dichter an sich gestellt hat, erscheint nun als fraglich: Beinah hätte er mit der Bogensehne abgewürgt, was zu pflegen war: die Sprache. Zuviel kunstfertiger Gebrauch tut ihr nicht gut. Bei Karl Kraus heißt es: Man könne eine Sprache nicht beherrschen, man möge ihr dienen.
Tarkovskijs Selbstvorwurf wird in der nächsten, vierzeiligen, Einheit mit zwei Beispielen illustriert: Der Wortschatz, dessen sich der Dichter bedient, wurde von der Sprache – i.e. allem, was von den Vorfahren gesprochen wurde und blieb – aufgeboten und ist weniger Verdienst dessen, der ihn einzusetzen weiß; eine Geste der Demut, die Tarkovskij hier vorbringt.
Wenn er vom „rotbraunen Lehm“ des „Wörterbuchs“ schreibt, könnte die Farbe geronnenen Menschbluts gemeint sein, eine christliche Assoziation für „ewiges Leben“, oder war der Buchdeckel des Russischen Wörterbuchs, aus dem der Dichter schöpfte, damals von dieser Farbe, wer weiß. Die russische Sprache ist jedenfalls der „Lehm“, aus dem der Dichter geschaffen ist, Material wie Assoziationsraum. Der Dichter als Hervorbringer von sprachlichen Wunderwerken verdankt sich der Sprache und nicht umgekehrt.
Noch biblischer ist das nächste Bild im Gedicht: Der ungläubige Thomas ist bekanntlich jemand, der an der Auferstehung Christi gezweifelt hat. Gott bediente sich der Gestalt eines Wanderers, dem die verängstigten Apostel auf ihrem Weg begegneten, der ihn aufforderte, seine fünf Finger in die Wundmale des Gekreuzigten zu legen. Der Griff in den geschundenen Leib hat Thomas überzeugt und beschämt. Tarkovskij sagt hier: Seine fünf Sinne würden weniger die Welt aufspüren, die er in seinen Gedichten erschafft, als dass diese Welt ihn, den Dichter, hervorgebracht hätte. Dass die Welt „wund“’ ist, musste der Dichter nicht zuletzt im Krieg erfahren: Als junger Mann meldete er sich an die Front, wurde verwundet und verlor ein Bein. Seine Generation hat freilich auch den Ersten Weltkrieg, die Revolution, Bürgerkrieg und Stalinismus erlebt – vom 20. Jahrhundert zugefügte Wunden genug.
Noch etwas: Obwohl die sowjetische Kultur sich antireligiös und materialistisch gab, waren im Sprachgebrauch, wenn es um künstlerische Themen ging, Wörter wie „schöpferisch“ und „Kultur-Schaffende“ weiterhin in Verwendung, die in den Westblock-Sprachen längst ausgedient hatten, wegen Schwulst-Gefahr und der Nähe zu Pathos und Geniekult verpönt.
„Das Leben lebt – auch ohne unseren Willen!“ ist ein zentraler Satz für Tarkovskij, dessen bekanntestes Gedicht „Leben! Leben!“ heißt. Es geht darin um den Tod, respektive das Ewige Leben, das größer und beständiger ist als ein Menschenleben. Ein Kritiker hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Verwendung von Wasser-Bildern – immer rinnt oder tropft oder fließt etwas in Tarkovskijs Gedichten und übrigens auch in den Filmen seines Sohns – wohl seinem Hauptthema: „Alles fließt“ geschuldet ist.
Kommen wir zur vorletzten „Strophe“: Der Dichter geht vom Allgemeinen wieder zu seinem Metier, der Sprachkunst: Er hätte der Sprache etwas aufzwingen wollen mit seiner Kunst und meint nun, es wäre dumm, den Stab „Gerade-Sein“ lehren zu wollen; schließlich müsse man den Vögeln nicht zeigen, wo sie’s am besten hätten und auch der Bogen wäre schon Bogen, bevor man ihn spannen könne.
Er kommt wieder auf sein Handwerk zurück: Seine beiden, der Saite, pars pro toto für die Lyra, das Zunftzeichen des Lyrikers, verpflichteten Hände, gehörten nicht dem Dichter allein: Es sind Wirklichkeit und Sprache, die im Gesang des Dichters wirken und der Dichtende – das ist die Botschaft, die es hier zu lesen gilt: – nur ihr Diener, gewissermaßen das Medium. Wie in einem Gebet bittet er nun seine „Herrinnen“, sie mögen ihm zeigen, worauf es ankommt, sie mögen ihn die Welt lesen lassen mit seinem Instrument: Haltet mir die Pupillen offen!, steht da, damit ich teilhaben kann an eurer „Königinnenkraft“. Wörtlich ist von „Zaren-Macht“ die Rede – im Sinn von Vermögen oder Können.
Seine Rolle sieht der Dichter mehr als Präsentator der wunderbaren Sinnhaftigkeit von Welt (Leben). Als Schaffender sei er Nachzeichner der Schöpfung.
Es klingt bescheiden, dass er im Dienst der „Königinnen“ „beiseite treten“ möchte; doch er dient dem „freien Flug“, indem er, der Künstler, unabhängig ist und selber mitfliegt. Er hat das Wunder erlebt in seinem schöpferischen Höhenflug, er sieht von oben die Zusammenhänge auf der Welt. Der Bogen seiner Waffe, der Lyra, wurde – eine von Homer angelegte Metapher – zum Bug eines Luftschiffs, welches die Erweiterung des Sehens ermöglicht. Aus seinem kreuzförmig ausgebreiteten Leib sind Flügel gewachsen oder Schaufelräder, die ihn durch die Wirklichkeit gleiten lassen wie ein Gefährt im Wasser. Ob die beiden Hände ihm gehören oder den Entitäten, denen er sich verpflichtet hat – Tarkovskij wird noch bescheidener: Sie gleichen Luft und Erde, sind am Boden zu finden – einfach wie die russische Bauernlandschaft.
Neuen Kommentar schreiben