Lesart
Bernhard Keimel

Gesang vom Abschaum und dem großen Baal (erster Versuch eines Prologs)

Was nennt ihr Abschaum, ihr
mit Mägen voller Brot und Wein,
Knechte der Uhren, gekettet von
Liebe und Haß, immer nur Könige
der anderen, nie das Leben beherrscht,
die reife Frucht der Sonne aus-
gesogen in Mondlicht und Fichtenduft.
Wer durch die Wälder läuft, die
nackten Füße in eure Töpfe steckt,
Fleisch ist und Fleisch bleibt,
Fleisch durch die Jahre schleppt,
Sterne trägt in stinkenden Haaren,
Wen nennt ihr Abschaum?? Uns ???
Uns meint ihr wohl; unsere zottigen Mäuler
triefen von Blut, Schnaps und ver-
westen Leibern, der mächtige Gott
der Lust hat seine Zelte aufgeschlagen:
Seht euch vor, er wird euch zer-
malmen. Euch .. ihr : Abschaum !!

Baal kam von den Talsenken
und bunten Wiesen, Baal hat die Wälder
abgehauen, auf schwarzen Straßen rülpst
er die Tage entzwei. Ihm sind Zuhause
die großen Mauern der Häuser, die
verrauchten Kneipen und die kotbe-
fleckten Bahnhöfe. Baal hält die Welt
in zwei Fingern, Moloch Baal, Welt Baal,
Gott Baal, Himmel ist über den dicken
Flüssen und Kanälen, im Schilf hängen
zerfressene Schenkel und auf den ver-
schlissenen Dächern reitet der Geist des
erbrochenen Weines. Baal lebt noch, hört
Leute, gebt ihm den kleinen Finger und er
wird den ganzen Körper nehmen. Baal wird
der einsame Jäger der Kneipen und Bahn-
höfe sein, wird tanzen und Rache nehmen
für zugefügtes Recht. Er wird die Vorrats-
kammern leeren, Feuer legen in unschuldsbleiche
Mädchenaugen, Baal ist, Baal wird sein,
Baal wird verrecken und in der Welt bleiben, Teil
der Welt, Welt Teil von Baal. Baal
wird verrecken. Der Himmel wird da
sein und die schwarzen Straßen. Blast die
Gitarren zum Schlachtfest, bereitet die Orgeln
zum Untergang vor ...

Der verklärte Baal

auf der Fahrt zum Gymnasium

1977 - „the torture never stops” – wir hatten gelesen, Terry Bozzio habe das Stöhnen seiner Frau beim Sex aufgenommen, und Frank Zappa hat dann zu diesen Bändern ein fingerfertiges, wie auf einer Glasscheibe zerlaufendes Gitarrensolo über den gedehnten, schleppenden Rhythmus gespielt und einen typisch ironisch schmutzigen Sadomaso-Text draufgesungen. Terry Bozzio prügelte und verschleppte, beknallte und bezisselte die entstehenden Räume an den drums, und alles blieb dabei trotzdem flüssig, wie ein Öl, das in die Körperritzen einzog und den Kopf allmählich überschwemmte.

Wir standen im ausgeräumten Wohnzimmer, Biere in der Hand und Hacki schwärmte von der Musik und zerrte an seinem abgelutschten, nikotinfleckigen Zigarettenstummel. Mit seiner Hakennase und seinen blau hervorstechenden Augen war er eine Art Adler, und sein Mund war ein Schnabel mit dem er Sprüche wie Fleischstücke verteilte.
Hacki war der Zappa-Fan schlechthin und der Grund dafür, das wir diese Platte sofort nach Erscheinen gekauft hatten. Wir sprangen damals zwischen Genesis, Kraan und Kraftwerk, Van der Graaf Generator und Zappa. Mein Bruder teilte mit mir nicht nur das Zimmer, sondern auch die Musik. Als ich von Hacki Platten von Zappa ausgeliehen hatte und sie vorspielte, war es um meinen Bruder geschehen und wir legten unsere Taschengeldreste zusammen für die „Zoot allures“. Hacki arbeitete als Mechaniker in der nahe gelegenen Manometer-Fabrik und ich hatte ihn kennengelernt über Kork, der für die regionalen Bands die Konzerte mischte. Mit seinen gekräuselten kurzen Haaren und den tausend Sommersprossen und der krummen Nase sah Hacki so speziell aus, daß die Mädchen erst recht auf ihn kuckten und wenn er sich souverän in der Mitte einer Runde plazierte und „kiss my ora, dora“ rezitierte, sich betrank und alles Betrunkene umarmte und dabei lasziv nach Sex lechzte, dann war nicht nur bei den Jungs die Lust auf mehr angetriggert.

Hacki war auch der, der ins Wohnzimmer kotzte. Irgendwann nachts hatte er sich ein Brot mit Fisch, Senf, Käse und Wurst gemacht und es nach halbem Genuß in einem Schwall auf den Teppich gewürgt. Teile des Brotes fanden wir am andern Morgen in der Ritze zur Lehne der Couch. Wir hatten sowieso die allergrößte Mühe anderntags das Haus in einen Zustand zurückzuversetzen, der als unauffällig hätte durchgehen können. Wir schafften es nicht, alles flog auf. Riesentheater und Taschengeldentzug und weiß der Teufel.

Einige Tage später trampte ich nach Erlenbach und brachte Hacki seine Platten zurück. Ich mußte unten in einer Art Anbau auf ihn warten, er stand unter der Dusche. Seine Mutter platzierte mich unter ein gelbes Wellplatten-Plastikdach und der Vater saß dort in einer Ecke vor einem Bier. Still und angetrunken. Das Licht war sehr seltsam weich, käsig, fast zu schneiden. Sätze gab es keine, die ich hätte sagen können – bis Hacki endlich kam und mich in sein Juchhe direkt unters Dach lotste.
Dort legte er Zappa auf, erzählte irgend etwas von Herbert Achternbuch, von dem er Bücher hatte (und er hatte eigentlich nur diese zwei oder drei und einige Sprüche parat, die ich nicht wirklich verstand) und holte dann einen kleinen Stapel s/w Paperbacks aus seinem Regal, schnapp drückte er mir ein Buch von Bernhard Keimel in die Hand.
Ich spürte, daß er mich gerade mißbrauchen wollte, daß er mich wie ein Staubsaugervertreter überfuhr, bloß um etwas los zu werden (er hatte Kümmel, wie er Keimel nannte, versprochen zehn seiner Bücher zu verkaufen). „metastasen & schlaglöcher“ hieß das Buch und auf dem Titel war der Autor abgebildet. Ich kannte ihn. Ich hatte ihn als Junge immer beobachtet, wenn wir mit einem alten Kässbohrer Setra eingesammelt wurden fürs Gymnasium. In Röllfeld weit oben am Neubaugebiet, in einer der Querstraßen am Hang, stieg einer zu mit blonden langen Haaren, grünem Parker und Palästinatuch. Er blieb eigentlich immer für sich, lachte nie, sprach mit niemandem. Ein Freak. Ein Hippie. Und noch irgendwie anders, ganz unnahbar. Er hatte einen wilden rotblonden Bart um seine wulstigen Lippen wuchern lassen. Statt einer Büchertasche schulterte er eine buntgestreifte Hirtentasche und rauchte selbstgedrehte Van Nelle.

Also Dichter war er. Das erklärte so manches. Ich blätterte ins Buch und sofort fand ich eines der Achternbusch Zitate, die Hacki gerade an mich losgeworden war, als Kapitelüberschrift und eine Seite weiter ein weiteres Zitat, auch als Kapitelüberschrift: „Pythagoras with the looking glass reflecting the full moon, in blood he’s writing the lyrics of a brand new tune“ – ich erkannte es sofort: es stammte aus der Schlußsequenz von Supper’s Ready, dem magnum opus der frühen Genesis. Ich liebte diese Musik, ich saß als Dreizehnjähriger zuhause vor dem Grundig Radiomöbel meiner Eltern und weinte zu dieser Musik. Es war meine erste LP überhaupt.

Ich kaufte das Buch sofort. Ich begriff sehr wohl, daß es ein Staubsauger war, aber ich wollte es unbedingt lesen. Ich wollte demjenigen begegnen, der meinen Lieblingssong zitierte und ihn zu einem seiner Kapitel machte. Als ich mich zuhause auf die Matratzen unterm Fenster zurückgezogen hatte, die mein Bett darstellen sollten, las ich das Buch in einem Zug durch. Und dann noch einmal. Die Sprache war berauschend, sie hatte einen leicht verstimmten Sound, der aufhorchen ließ, verzerrte Gitarren und schwangere Mellotronteppiche, eine schwierige Melodie über vertrackte Rhythmen, sie war voll schmutziger und intelligenter Rockmusik, voll Suff und Kino, wild, sehnsüchtig, war voller Auflehnung und Anarchie. Was mich sofort faszinierte: es gab keinen doppelten Boden. Die Sprache war unvorsichtig, riskant, ohne jede Deckung. Irgendwie auch größenwahnsinnig. Keimel nannte sich in Anlehnung an Brechts Drama Bahl, mit h, und auch Baal, ohne h. Er spielte mit dieser Identität. Der unerreichbare Baal, der ewig verkannte Bahl, der stets betrunkene Ball, der allmächtige Baal.

Keimel erzählte von Tramptouren Nach Belgien und Skandinavien, von betrunkenen Nächten und mißlungenen Tagen, von Bahnhöfen im Dunkel und zerlebter Welt im Abseits. Der einsame Wolf im Dickicht der grauen Städte und der unsinnigen Tage. Ich hatte es geahnt: der verschlossene blonde Hans aus dem Bus war in Wirklichkeit ein Typ für die Ewigkeit, bereit sich selbst zu vergeuden für die Poesie, mit Carlsberg, Stella Artois, Lagerbier und Schnaps. Rebell mit wehendem Haar und Faust in der Luft in der Tasche. Er war das, was er schrieb, aber er war auch der andere. Der still in der Halteschleife im Setra seine Träume festhielt.

Ich war fasziniert. Ich hatte so etwas noch nicht gelesen. Brinkmann war brav dagegen. Alles andere war brav und bürgerlich, oder politisch verdickte, zähe Soße. Bahl schrieb Rockmusik in Worten. Und er war jung. Die frühesten Texte aus dem Band stammten aus 1973, da war der 1955 geborene gerade mal achtzehn.
Auch ich war gerade jung. Ich war immer noch fünfzehn und ein Bekannter wollte an Pfingsten nach Birmingham, seine Brieffreundin besuchen und fragte mich, ob ich ihn begleiten würde. Wir trampten via Antwerpen an die Küste und setzten über. Betranken uns auf der Fähre mit zollfreiem Whiskey, um der Seekrankheit einen Haken zu schlagen. Wir schliefen auf Parkbänken und in Bahnhöfen und auf uneinsichtigen Wiesen neben der Autobahn und erwachten im Tau. Wir kamen zur Brieffreundin und sie war nett, aber häßlich. Andy war es peinlich und wollte wieder weg. Wir trampten nach Oxford und durchtranken die Nächte und schliefen auf offenem Feld bis weit in den Tag. Ich schrieb Gedichte. Während wir manchmal nicht wußten, wohin mit uns, notierte ich Texte und empfand Bahls heimliche Gegenwart im Geschriebenen quälend. Er war da und wollte in meine Texte. Ich lehnte mich gegen seine Anwesenheit auf, aber es gelang mir nicht. „Er wird die Vorrats-/kammern leeren, Feuer legen in unschuldsbleiche / Mädchenaugen, Baal ist, Baal wird sein, / Baal wird verrecken und in der Welt bleiben, Teil / der Welt, Welt Teil von Baal. Baal / wird verrecken. Der Himmel wird da / sein und die schwarzen Straßen.“ - Was ich schrieb war ein Abziehbild, was ich festhielt, war durchsortiert nach dem Muster Bahl. Und ich war sowieso nicht ich genug um ichlose Gedichte zu schreiben.

Klar war mir das nicht, getrübt sah ich etwas davon und wollte es nicht sehen: zuhause sortierte ich das Geschriebene, korrigierte, tippte es in die alte Olympia meiner Schwester. Ließ es dann - über Beziehungen - im Büro der Manometerfabrik abtippen auf einer IBM Exekutive (ich liebte dieses Schriftbild und es kam kein anderes in Frage). Und fotokopieren. Und schickte das ganze als Manuskript an den Verlag, bei dem die metastasen & schlaglöcher erschienen waren. Die edition trèves aus Trier hatte damals einen Lauf, jeder, der die Szene via Ulcus Molle Info verfolgte, wußte es: hier strebt ein Verlag nach vorne - ein Buch nach dem anderen erschien. Ingo Cesaro mit seinen Verdauungsschwierigkeiten, Norbert Ney mit seinen schlechten Collagen und viel zu simplen Texten, Dieter Walter mit einem Mordfall, keine schlechten Leute und ich wollte es probieren und bekam nach einigen Wochen positiven Bescheid. Ich freute mich unendlich und begriff, während ich den Brief las, einen Absatz später sofort, daß es nichts werden würde.

Zweitausend Mark wären fällig gewesen, wenn ich es richtig erinnere. Das ging natürlich überhaupt nicht. Ich hatte kein Geld und auch keine Eltern, die Geld hatten. Ich hatte nicht einmal gute Gedichte, die diesen Einsatz wert gewesen wären. Ich hatte nur Bahl im Kopf und daß ich so sein wollte wie er.
Und daß ich fast eine Zusage in der Tasche hatte, von genau dem Verlag, der sein Buch herausgebracht hatte. Das war doch was! Das war im Prinzip riesig. Am Geld konnte man ja scheitern. Geld war nicht die Welt. Der Bahl in mir war eingeholt und ich konnte beginnen meine eigenen Gedichte zu schreiben. Die sich dann doch wieder als Kopie entlarvten und die ich dann irgendwann alle verbrannte.

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