Ich erwarte dich an jeder Straßenkreuzung,
Fluch, dich in den Augen
jeder Frau zu suchen, die vorüber geht…
An Jahrmarktsbuden bleibe ich stehen,
die Schlangenfrau zu begaffen,
das fliegende Mädchen…
Oh Freude, alles für nichts herzuschenken!
Das Leben, unser einziges Gut,
nicht höher zu schätzen als Stroh.
Diejenige, die alle besessen, die immer
lacht, die mit dem Schwung ihrer Hüften
mich in meiner Welt auflöst,
ach, möge sie meinen Weg einmal kreuzen.
Wie ein Bettler zum Hohn
seine einzige Münze fort wirft, möchte ich mein Leben
fortwerfen für sie, für weniger noch.
Aus dem Italienischen von Stefanie Golisch
Sbarbaros Tränen
Mit eigensinniger Traurigkeit lebte Camillo Sbarbaro (1888-1967) an dem vorbei, was Menschen üblicherweise anstreben, wertschätzen und lieben. Früh entschied er sich für eine Existenz an den Rändern. Er sammelte Flechten, die er in Herbarien anordnete und an Universitätssammlungen verkaufte, er unterrichtete als Aushilfslehrer an höheren Schulen Griechisch und Latein und schrieb Gedichte und Prosaminiaturen. Zwar steht sein Leben steht ganz im Zeichen des Rückzugs, doch besitzt er auf der anderen Seite eine wache Beobachtungsgabe, den leidenschaftslos - unbestechlichen Blick für Gründe und Abgründe, den nur derjenige zu entwickeln vermag, der den Wert des Lebens nicht daran misst, ob es ihm seine Träume erfüllt. Es ist im Gegenteil die Bitternis, welche Camillo Sbarbaro die traurige Liebe zum Leben lehrt. Das Elend eines Straßenmädchens, das alle schon einmal besessen haben oder die aufgerissenen Münder der Betrunkenen, die gegen den Nachthimmel grölen. In Außenseitern und Abseitigem entdeckt er die verletzte und beleidigte Schönheit, der er in seinen Gedichten ein Denkmal aus Andeutungen baut. Sich klein machen, durchlässig, in dem sicheren Wissen, dass nur derjenige zum Kern des Lebens vordringt, der bereit ist, für die Dinge einen Preis zu bezahlen, der in keinem Verhältnis zu ihrem eigentlichen Werk steht: Wie ein Bettler zum Hohn /seine einzige Münze fort wirft,/ möchte ich mein Leben fortwerfen für sie, für weniger noch. Worum es geht, ist die gemeine Logik der Welt außer Kraft zu setzen.
Camillo Sbarbaro stammt aus Ligurien. Geboren ist er in Santa Margherita, gestorben in Spotorno: beide Orte liegen am Meer, und es trennen sie nur wenige Kilometer. Bewusst hält er seinen Lebensrahmen überschaubar, räumlich begrenzt und ist nur einigen wenigen Menschen lebenslang liebevoll zugetan. Bis zu seinem Tode lebt er in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Schwester Clelia, die ihn versorgt wie häufig in der Vergangenheit Schwestern ihre dichtenden Brüder. Auch ihre Hingabe, ihr notwendigerweise ungelebtes Leben, sind in seine Gedichte eingegangen als Teil jener unvermeidlichen Versagung, die, um nicht an ihr zu verzweifeln, nur bedingungslos bejaht werden kann.
In seinen Briefen an einen jungen Dichter schreibt Rilke, der Überschwängliche, Sbarbaros Gegenteil in allem, was das Selbstverständnis eines Lyrikers im Einzelfall ausmacht: Und im Übrigen, lassen Sie sich das Leben geschehen. Glauben Sie mir, das Leben hat immer recht, auf alle Fälle.
Wahrscheinlich hätte Sbarbaro diesem Satz zugestimmt.
Ja, das Leben hat immer recht. Mein Leben und das Gegenteil meines Lebens. Meine Tränen, die geweinten und die ungeweinten. Jede Hure, die ich umarmte war das Leben und hatte recht. Die Flechten, minimale Organismen, sind Teile des Lebens. Der Verzicht auf die Liebe und die Verzweiflung der Schwester und alle Betrunkenen dieser Erde, die nachts nach Hause stolpern und ihre schönsten Träume an eine Häuserwand erbrechen, sind lebendig und haben deshalb recht. Das Saure im Mund hat recht und die Sonne, die am Morgen auf der einen Seite des Himmels aufgeht, um am Abend auf der anderen wieder unterzugehen.
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