Lesart
Nelly Sachs* 1891† 1970

Ach daß man so wenig begreift

Ach dass man so wenig begreift
solange die Augen nur Abend wissen.
Fenster und Türen öffnen sich wie entgleist
vor dem Aufbruchbereiten.

Unruhe flammt
Verstecke für Falter
die Heimat zu beten beginnen.

Bis endlich dein Herz
die schreckliche Angelwunde
in ihre Heilung gerissen wurde
Himmel und Erde
als Asche sich küßten in deinem Blick –

O Seele - verzeih
daß ich zurück dich führen gewollt
an so viele Herde der Ruhe

Ruhe
die doch nur ein totes Oasenwort ist –  
 

Das Unerträgliche und sein Gegenteil

Das zu dem 1959 veröffentlichten Zyklus: "Flucht und Verwandlung" gehörige Gedichte setzt ein mit einer Imago der Sehnsucht nach "Abend" und "Ruhe", die sofort in der zweiten Hälfte der ersten Strophe erbarmungslos zerstört wird. Was aufbrechen will, muss jeden Schutzraum verlassen; "Fenster und Türen" eines vielleicht noch Heimat bedeutenden Hauses hängen nicht mehr in ihren Angeln. Das Bild suggeriert nun vielmehr eine Stätte der Vernichtung, die hinter - in - demjenigen, der sich auf die existenzielle Suche begeben hat, zurückbleibt.

Nur wer sich einer "Unruhe" aussetzt, die nicht mehr als Durchgangsstadium hin zu ihrem Gegenteil begriffen werden kann, schafft in einem Prozess der Selbstverbrennung "Verstecke" für die Verpuppung der Seelen-"Falter", die eben jetzt "beginnen", in ihrem Gebet den unsichtbaren Ort eines Zuhause zu entwerfen. Der Anfang eines solchen Betens liegt immer erneut in der Übernahme einer völligen Entfremdung von dieser Welt, deren Wesen einzig als Schmerz erfahren wird: "geistige Himmelfahrt / aus schneidendem Schmerz - ", schließt die zweite Strophe des folgenden Gedichts. Die Seele aber, deren Metapher seit ältesten Zeiten der Schmetterling ist, ist ein Gebilde, in dem sich Flüchtiges und Ewiges auf seltsamste Weise verbinden: "Ein Seufzer / ist das die Seele -?" (Gedichte II, S. 93) - in ihm, dem Laut und "Atem der inneren Rede" (Gedichte I, S. 319), gehen das gesteigerte Dasein und die es aussprechende Dichtung ineinander über. Im Augenblick ihrer Verbindung wird das Heimat-Gebet in der Tiefe der Welt von ihr selber gesprochen - und eben in diesem Moment und nur in ihm existiert, wovon im Gedicht die Rede ist.

In seiner Mittelstrophe, dem lyrischen Zentrum, entsteht das wirkliche Begreifen dessen, was das Wort "Heimat" enthält. Die "schreckliche Angelwunde" des Herzens ist die "Weltenwunde" (Gedichte I, S. 319), und das Herz der Welt wird, ähnlich wie ein Fisch, der am Haken hängt, mit äußerster Grausamkeit also, in seine "Heilung gerissen". Auf welche Weise heilt diese Wunde? Die letzten beiden Verse der Strophe sagen es in einem ungeheuerlichen Komprimierungsvorgang. Die heilige Begattung von "Himmel und Erde", der eigentliche Schöpfungsvorgang, findet nicht mehr im entflammten Sein statt, sondern der Kuss, die Verschmelzung von Diesseits und Jenseits, vereinigt nun die "Asche" des irdischen und himmlischen Bereiches, den schrecklichen Rest einer Verbrennung allen Sinns, dessen Urbild, die Vernichtung der Juden, im zwanzigsten Jahrhundert entsprungen ist; aber erst im "Blick" des in seiner Verwundung heilenden Herzens, das sich aller Qual geöffnet hat, kann - immer noch stellt sich der Fortsetzung eines solchen Satzes das Grauen in den Weg - die Asche der verbrannten Leiber - wie das im "Stein" erstarrte Leben (vgl. etwa Gedichte I, S. 181 u.a.) - in das Zeichen göttlicher Erneuerung verwandelt werden. Wenn jedoch der Holocaust, Ausdruck eines radikal Bösen, wie es zuvor in der Geschichte noch niemals existiert hat, zum Bild einer solchen Verwandlung werden kann, so nur, weil sich in ihm spiegelt, was mit dem Zentrum der Schöpfung selber geschieht. "Gott" ist nun hineingerissen in diesen Vorgang einer "Heilung", der nur in der "Weltenwunde": in dem unhörbaren ewig-jetzigen Schrei, den sie ausstößt und ist, wirklich werden kann. "Aber der Atem der inneren Rede / durch die Klagemauer der Luft / haucht geheimnisentbundene Beichte / sinkt ins Asyl / der Weltenwunde / noch im Untergang / Gott abgelauscht -" Die Schlussstrophe des folgenden Gedichts bindet in gesteigerter Verundeutlichung des Bezuges sowohl den "Atem", als auch das "Asyl der Weltenwunde" an einen "Gott", dessen "Untergang", auch seiner, zur Chiffre der Existenz wird. Dieser Schöpfer wartet nicht mehr in irgendeinem Himmel auf diejenigen seiner Kreaturen, die er erlösen möchte. Er ist, wie seine Welt, der Inbegriff des Leidens - und womöglich der Schuld. Die Seele, die ihm nachfolgen will, erfährt, dass ihr eigentliches Sein nicht in der "Ruhe", sondern im unlösbaren Ineinander von Qual und Heilung liegt. Im "Blick" solcher Erkenntnis verschmelzen Paradies und Hölle. Eine derartige Weltsicht, so möchte man sagen, lässt sich nicht ertragen? Aber sie entspringt erst dort im Gedicht, wo sich das Unerträgliche und sein ihm verwandtes Gegenteil berühren und durchdringen; hier, jenseits aller einseitigen Kategorien, bildet sich der unerhörte Kairos allen Daseins mitten im Schrecken.

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