Glühende Rätsel II
Grade hinein in das Äußerste
Nicht Versteckspielen vor dem Schmerz
Ich kann euch nur suchen
wenn ich den Sand in den Mund nehme
um dann die Auferstehung zu schmecken
denn meine Trauer habt ihr verlassen
Abgeschieden seid ihr von meiner Liebe
Ihr meine Geliebten —
Wird das Leben zur Schrift
Das Gedicht gehört zum Spätwerk (Glühende Rätsel II, Suche nach Lebenden, S. 51), das insgesamt durch eine Komprimierung der Metaphernsprache gekennzeichnet ist. Es beginnt selber mit dem, was es fordert: die Hebung auf der ersten Silbe - man schiebe für einen Moment gedanklich ein e zwischen dem g und dem r ein, um den ungeheuren Unterschied zu spüren - akzentuiert einen harten Bruch mit allem, was vor oder außerhalb dieses Verses liegen mag; jetzt gilt nur noch das "grade hinein", dessen daktylischer Rhythmus direkt auf das "Äußerste" hinzielt. Die zweite Zeile verdeutlicht, was mit diesem gemeint ist. Wer auch vor dem schärfsten Schmerz nicht ausweicht, setzt sich dem "Äußersten" aus. Aber von welchem "Schmerz" ist die Rede? Die "Geliebten", die das Ich das Gedichts sucht, haben seine "Trauer" verlassen und sich auch von seiner "Liebe" getrennt. Das Aufsich- und Hinnehmen einer solchen Trennung ist gleichbedeutend damit, keine aus Trauer und Liebe bestehende Nahrung, sondern "Sand" in den Mund zu nehmen, also sich nicht mehr an Erinnerungen zu klammern, wohl aber die Vergänglichkeit, das wirkliche Nicht-da, den Abbruch der Kommunikation, ungemildert zuzulassen.
Die Erinnerung an die "Geliebten" wird nicht einfach aufgegeben, sondern auf paradoxe Weise vertieft. In: "Sie tanzt - / aber mit einem schweren Gewicht" (Fahrt ins Staublose, S. 367) heißt es: "Ächzend zieht sie ihren Geliebten / am Gelock des Weltmeeres aus der Tiefe / Atem der Unruhe bläst /auf das rettende Gebälk ihrer Arme / ein leidender Fisch zappelt sprachlos / an ihrer Liebe - // Aber plötzlich / am Genick / Schlaf beugt sie hinüber - // Freigelassene / sind Leben - / sind Tod -" Die schwere Arbeit der Erinnerung - der Tanz "mit einem schweren Gewicht" (2. Zeile) - schlägt in einem gesteigerten Augenblick plötzlich um in ein sich jedem Willen entziehendes Loslassen, in dem "Leben" und "Tod" nicht mehr mit den Wünschen und Vorstellungen der "Liebe" bedrängt werden (vgl. "denn nicht dürfen Freigelassene / mit Schlingen der Sehnsucht / eingefangen werden", Fahrt ins Staublose, S. 322 und die Interpretation des Gedichts von Christine Rospert im Schwerpunkt).
Das Schmerzvollste ist mithin, angesichts der weggehenden "Geliebten", nicht die äußere, sondern die existenzielle Einsamkeit auf sich zu nehmen: "Aber unter dem Blätterdach / vollkommener Vereinsamung / [...] / abstreifend alle Begegnungen / auch die der Liebe" (Fahrt ins Staublose, S. 362), und hierin zu fassen, dass "Auferstehung" nur in der tiefsten Vergänglichkeit geschehen kann: "Leonardo / [...] / das düsterste Schwarz suchend / ganz mit Tod getränkt / die Auferstehung / [...] (Suche nach Lebenden, S. 121). Das "düsterste Schwarz" und der "Sand" meinen dasselbe. Nur wer die eigene Haltlosigkeit und Todverfallenheit ineins mit dem äußersten Schmerz, die "Geliebten" mit nichts halten zu können, wirklich an seinem Leib erfährt, kann begreifen, was sich jedem Begriff entzieht: "Schmerzen singen / Tote und Lebende begegnen sich im Äußersten / [...]" (Suche nach Lebenden, S. 127). Was dieses in jeder Hinsicht unglaubliche Gedicht sagt, kann nur hindeutend angesprochen werden. Wenn, was einen zu zerreißen droht, in einem aus der Zeit heraustretenden Moment zu schwingen beginnt, treten in diesem Rhythmus "Tote und Lebende" zusammen, weil das durch den Tod hindurchgegangene Leben sich an sich selbst erinnert. Seine zeit-geprägten Inkarnationen, Ich-Gesichter, verwandeln sich in die Ur-Gesten der Erlösung, die sie sonst nur unbewusst spiegeln. Deswegen wissen die "Engel" "... oft nicht, ob sie unter / Lebenden gehn oder Toten" (Rilke: Erste Duineser Elegie - in sehr vergleichbarer Weise spricht auch Nelly Sachs von Engeln); denn sie gehen durch den "Weltinnenraum", in dem die Grundmuster des Lebens zuhause sind.
Nelly Sachs beschreibt diesen Raum so: "In einer Landschaft aus Musik, / in einer Sprache nur aus Licht, / in einer Glorie, / die das Blut / sich mit der Sehnsucht Zunge angezündet [...]" (Fahrt ins Staublose, S. 172). Gerade die tiefste "Sehnsucht" treibt dazu, das "Äußerste" auf sich zu nehmen, um wenigstens in Verbindung zu jener "Landschaft" zu kommen. Der Weg dorthin führt, wie jeder Mystiker weiß, durch den eigenen Tod, das Loslassen von allen Weltbezügen, hindurch. So vielleicht ist die "Auferstehung" zu "schmecken" - Nelly Sachs deutet hier selber auf Meister Eckehart, der vom "Gottschmecken" spricht. Die Bezüge ihrer Lyrik besonders auch zur jüdischen Mystik, und hier vor allem zum "Buch Sohar", das sie in der Übersetzung von Gershom Scholem las, sind häufig dargestellt worden. Aber entscheidend ist, dass diese Mystik in der Dichtung wiedergeboren wird. Damit ist auch schon gesagt, dass in ihren Versen die so mühsam von der Literaturwissenschaft herausgearbeitete Unterscheidung zwischen lyrischem und Verfasser-Ich über den Haufen geworfen wird. Sie besteht - natürlich - und wird im Gedicht selber aufgehoben. Nelly Sachs, eine der größten Dichterinnen überhaupt, hat, in aller Stille, ein ungeheuerliches Leben geführt, dessen Konsequenzhaftigkeit und Radikalität tatsächlich nur mit dem der bedeutendsten Mystikerinnen und Mystiker verglichen werden kann. Vielleicht liegt hierin einer der Gründe, weshalb unsere Zeit die Auseinandersetzung mit ihr scheut. Die Rilke-Zeile: "Du musst dein Leben ändern" (Archäischer Torso Apollos) durchpulst ihr Leben ebenso, wie alles, was sie geschrieben hat, einschließlich der Briefe. Wie "will" das Geheimnis der Verknüpfung von Henkern und Opfern, das die Geschichte durchzieht, "gelesen werden?" "Mit dem Leib wenn er schreibt im Sand / sagt eine Hand und / streicht mir über den Rücken / daß ich friere -" (Vor meinem Fenster, Fahrt ins Staublose, S. 346). Der den "Sand in den Mund" nimmt, schreibt in ihn "mit dem Leib", eins steht für das andere. In Umkehrung des wesenlos gewordenen heutigen Metaphernverständnisses deuten im Werk von Nelly Sachs die Sprachbilder nicht auf etwas Reales, das doch von ihm als scheinhaft dechiffriert wird, vielmehr wird das Leben selber zur Schrift und findet eben so Eingang in das Gedicht. Im lakonischen Ton des Spätwerks verbirgt sich eine geistige Spannung, die in manchen wie Prophetensprüche wirkenden Versen in paradoxe Leichtigkeit und Ruhe umschlägt. Es bedarf selber einer äußersten Anspannung des Lesers, sich in diesen Gedicht-Raum zu begeben und in ihm nicht nur der eigenen, sondern der Existenz überhaupt zu begegnen.
Zitiert wurde nach der Werkausgabe des Suhrkamp Verlages: Fahrt ins Staublose. Die Gedichte der Nelly Sachs (enthält: In den Wohnungen des Todes, Sternverdunkelung, Und niemand weiß weiter, Flucht und Verwandlung, Fahrt ins Staublose, Noch feiert Tod das Leben)
Suche nach Lebenden (enthält: Glühende Rätsel I - IV, Teile dich Nacht I - IV)
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