Vorfrühling
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.
(1924)
Zeit für ein zweites Innehalten
Ein kurzer, doppelt betonter, ´harter´ Satz, und endgültig gehört alle „Härte“ (kein Artikel!) der Vergangenheit (Präteritum) an. „Auf einmal“, nicht plötzlich, nicht überfallartig, nicht „jäh“ (wie im „Spätherbst in Venedig“, auch nicht „strahlend und fatal“ wie dort), in weicher, schwebender Betonung, in der kunstvollen und mühelosen Austarierung von ´Härte´ und ´Schonung´ am Anfang und Ende des Verses, ist Rilkes ´Vorfrühling´ ganz Gegenwart (Präsens), eine Gegenwart der Ahnungen, Andeutungen, der „Zärtlichkeiten, ungenau“. Behutsam legen die kleinen, knappen Gesten - des Vorfrühlings, der Gestaltung des Gedichtes - , legt der zarte Blick auf Details das Innerste dessen, was diese Jahreszeit an Erwartungen, Gefühlen in uns, in ´dir´, weckt, aus-löst, offen. In den hingetupften Bildern sehen wir, in den zarten ´Übergriffen´ der Enjambements - die ´Schonung´, die ´Zärtlichkeiten´, des ´Steigens Ausdruck´ fließen weiter – spüren wir die Wirkung der ´nach der Erde aus dem Raum greifenden´ Zärtlichkeiten. Wie in einem Gespräch dann, wenn ´Härte schwindet´, wenn wir ´Weiche´, „Schonung“ zeigen, die „Betonung“, also Nuancen (´kleine Wasser´) der Haltung, ´ändern´, Veränderung, ´aufsteigen´, Verkrustung, Verhärtung sich lösen kann, so lässt der Anblick des noch ´leeren Baumes´, lässt der Vorfrühling ´unvermutet´ eine Ahnung ´aufsteigen´ von den sich andeutenden, anbahnenden Veränderungen, von der weicheren Stimmung, der zarteren Gestalt, dem „Ausdruck“ der neuen Jahreszeit, des neuen Lebensgefühles - „Zärtlichkeiten, ungenau“. Das Wunder dieses Verses gehört zu jenen Wendungen, mit denen Rilke den Leser seiner Gedichte immer wieder ´unvermutet´ aufhorchen lässt. Das Atemholen nach „Zärtlichkeiten“ öffnet einen weiten Raum für ein Nachhorchen, für erkennendes Staunen, für staunendes Erkennen dessen, was als nicht Festzuhaltendes, Übergängliches des aufsteigenden Vorfrühlings gar nicht präziser benannt werden kann als mit dem, nach der Pause, nochmals mit kleinem, aber zartem Nachdruck, mit einem Augenaufschlag, einem ´unvermuteten´, ´ungenauen´ Heben des Kopfes nachgereichten „ungenau“. Danach bleibt Zeit für ein zweites Innehalten, für ein ´ungenaues´ Heben des Kopfes zum ´unvermuteten Sehen´ der kleinen, kaum erkennbaren und doch vorhandenen ´Änderungen´, von denen die Erde ´ergriffen´ ist, von denen wir, das Gedicht lesend, ´ergriffen´ sind.
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