Lesart
Reinhard Priessnitz* 1945† 1985

entwachung

wenn das sehen könnte,
wie das beobachten wünschte,
weil das schauen möchte,
dass das starren täte.

der durchgehend verwendete konjunktiv

das gedicht „entwachung“ von reinhard priessnitz (1945-1985) beschließt die einzige zu lebzeiten des dichters erschienene buchpublikation „vierundvierzig gedichte“, erstmals 1978 in der von heimrad bäcker betreuten edition neue texte herausgekommen.

in den vier zeilen des poems wird dem sehen das beobachten und dem schauen das starren gegenübergestellt, zudem bedingt der durchgehend verwendete konjunktiv einen magischen schwebezustand, der einen ins staunen versetzt.

möglicherweise ist es eines der zuletzt von priessnitz verfaßten gedichte aus 1977/78, das nahtlos an gedichte wie „mund“ und „am offenen mehr“ anschließt, in denen die reduktion schon ziemlich vorangetrieben ist.

„entwachung“ fasziniert wie verstört gleichermaßen, das fängt bereits bei dem doch reichlich verwirrenden titel an. begriffe mit der vorsilbe ent die weit gebräuchlicher sind, wären enttäuschung, entsetzen, was weiß ich, führt uns jedenfalls auch nicht viel weiter. sehen wir in der entwachung das gegenteil der wachung, könnten wir eventuelll in der entwachung den schlaf orten. eine schlaftrunkene szene allerweil ist in dem kurzen gedicht abgesteckt. nicht so ohneweiteres zu begreifen sind die zeilen, die um eine subtile wahrnehmung kreisen. sehen und beobachten sind nicht eins und das schauen hat mit dem sehen nichts gemein, schon gar nicht mit dem starren. hoffnung ist in der entwachung enthalten, bereits zu beginn heißt es ja: wenn das sehen könnte, wie das beobachten wünschte... dem wünschen wird das können somit gleichgestellt.

priessnitz, der einer der akribischsten wortmetze gewesen ist, an texten bis zur drucklegung arbeitete, hat mit dem gedicht „entwachung“ gewiß einen frühen höhepunkt in seinem viel zu kurzen leben erreicht. zuvor waren es bereits gedichte wie „triest“, „orvieto“ oder „der blaue wunsch“, die den jungen autor als einen der wegweisendsten seiner generation und darüber hinaus auswiesen.

sind die genannten plus „zitronen“ und „in stanzen“ noch einigermaßen in den griff zu bekommen, bleibt einem bei der „entwachung“ nur eins: zu staunen – und das nachhaltig.

wie es priessnitz bei seinen lesungen stets verstand, jedes gedicht wie eben geschrieben wirken zu lassen, ist dies nun auch beim rezipieren seines werks auf einmal sonnenklar: aufs neue treten neue assoziationen zutage, das einfache ablesen von bereits erkanntem wird in frage gestellt, die wahrnehmung wird wieder gefordert. nichts scheint mehr so wie es einmal war...
 

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