Strassenreiniger
Fürwahr, es ist zu gar nichts nutz
den Kehricht aufzulesen;
der Strassen allergröbster Schmutz
entfernt ja doch kein Besen.
Die Lumpen, die vorüberweh’n,
beseitigt Sturm und Regen .....
Doch die in Samt und Seide gehn,
die sind nicht wegzufegen!
Die Musen
Um die Jahrhundertwende war noch immer viel von Nietzsches Übermenschen die Rede, und als Verballhornung dieses Hirngespinstes wählte der kaisertreue Ernst Freiherr von Wolzogen für sein 1901 in Berlin gegründetes Kabarett den Namen „Überbrettl“ (und stellte auch glatt eine Nietzsche Büste ins Foyer). Wolzogen wollte nicht „das Tingeltangel in die Kunst bringen, sondern die Kunst ins Tingeltangel“ (Alfred Kerr). Er hatte in Paris die Cabarets besucht und kreierte eine deutsche Variante, die allerdings ohne allzu scharfzüngige politische Kommentare auskommen mußte, da es um diese Zeit eine funktionierende und strenge Zensur gab, die empfindliche Geldstrafen (bis 1000 Mark) verhängte. 1900 war die Lex Heinze verabschiedet worden, ein Gesetz, das „unmoralische Darstellungen“ in Kunst und Literatur unterbinden sollte.
In den Jahren bis 1906 entstanden über 40 sogenannte Kabaretts allein in der Hauptstadt und fast alle schrieben der Zensur wegen an ihre Türen »Streng geschlossene Gesellschaft. Ohne Einladungskarte kein Eintritt«. Mit diesem Trick war es möglich, letztendlich doch ein unbeeinflußtes Programm zu fahren. Eine bunte und lebendige Szene entstand. Auch ein Kabarett das sich „Roland von Berlin“ nannte, öffnete 1904 seine Pforten in der Potsdamer Straße.
Der Autor des Gedichtes „Strassenreiniger“ allerdings ist ein anderer. Der dieses Pseudonym für sich benutzte, war der Dichter und Flaneur Leo Leipziger. Im Januar 1896 flanierte er durch Paris, stieg die Stufen zu einem Kellerlokal hinab, weil in dem etwas Unbekanntes geschah: lebende Fotografien! Aus dem Cinématographen der Gebrüder Lumière. Leipziger war sofort fasziniert. Nur wenig später, im April schon, lud er zur ersten Filmvorstellung in den Isolatograph Unter den Linden 21 ein. Der jüdische Rechtsanwalt und Schriftsteller, hatte, unabhängig von den Gebrüdern Skladanowsky, die bereits mit ihrem Bioscope lebende Bilder im "Wintergarten" gezeigt hatten, das Kino in seine Heimatstadt Berlin gebracht und deshalb kennt man heute Leo Leipziger (1861–1922) eher in der cinematographischen Fachliteratur, als in der schöngeistigen. Er gab seit 1903 eine Zeitschrift gleichen Namens heraus und textete satirische und zeitkritische Gedichte und ebensolche Lieder, unter anderem auch für Claire Waldoff, die ihre Karriere aus dem kleinen Figaro Theater der Olga Wohlbrück (am Kurfürstendamm) ins Kabarett in der Potsdamer verlegt, in den „Roland von Berlin“. Sie steht dort im Hosenanzug auf der Bühne und singt Texte von Paul Scheerbart und die Zensur zeigt ihre Muskeln. Ein Skandal droht - eine Frau in einer Hose sagt, was Sache ist! unduldbar! - man komponiert rasch ein anderes Liedchen und kleidet sich nett und wallend und alles geht gut. Waldoff wird zum „Sternchen von Berlin“.
Das Gedicht „Strassenreiniger“ muß um 1905/07 herum entstanden sein und hat überlebt, weil um diese Zeit Maximilian Bern sich anschickte genau diese „Brettl-Dichtungen“, wenn man das als Genrebegriff einer vorexpressionistischen, großstadtgewohnten, liedhaften Poesie auffassen wollte, in seiner Sammlung „Die zehnte Muse“ zu dokumentieren. „ ... oft übermütige Dichtungen, die sich den pedantisch strengen Grundsätzen der alten neun Musen nicht recht fügen wollen und daher eine neue Schutzgöttin – die zehnte Muse – beanspruchen“, schrieb 1909 der Verlag ins Vorwort. Das Buch etabliert sich rasch, wird zu einer Institution. Ein Freund von Leo Leipziger, der Libretto-Schreiber Georg Okonkowksi, muß im Anschluß sogar bis zur „elften Muse“ aufstocken, für eine Operette von Jean Gilbert, die 1912 in Hamburg uraufgeführt wird und etwa zeitgleich beginnt der renommierte Musikverlag Oscar Brandstetter in Leipzig Noten einer neuen Reihe aufzulegen: Die elfte Muse. Eine Sammlung moderner Cabaretlieder.
»Die zehnte Muse ist der Titel einer Anthologie humoristischer Gedichte und Chansons, die es zu außerordentlich hohen Auflagen brachte und mit der Maximilian Bern sich selbst und vielen jungen Dichtern einen guten Platz in der deutschen Literatur zu sichern suchte. Bern war regelmäßiger Gast bei den Kommenden und im Café des Westens. Er hatte den sehr sympathischen Ehrgeiz, als Förderer der jüngsten Generation in die Literaturgeschichte einzugehen, und erwähnte man nur irgendeinen bekannten oder Bekanntheit prätendierenden Dichternamen vor ihm, so konnte man mit Sicherheit hören: »Den hab ich doch entdeckt!« Mir war Maximilian Bern nicht sehr gewogen, und von meinen Versen hat keiner in seiner dickleibigen Sammlung Aufnahme gefunden; aber daran trug ich selbst die Schuld. Als mich nämlich der Allerweltsprotektor einmal aufforderte, ich solle ihm doch Gedichte zur Prüfung einsenden, gab ich ihm die patzige Antwort: »Lassen Sie das man, Herr Bern – ich entdecke mich selbst.« so schildert es Erich Mühsam in seinen Unpolitischen Erinnerungen.
Alles davon stimmt: es hat in Berns seltsamer Anthologie, die zwischen Brettl-Poesie und Vagabundenlied umher wackelt, mancher überlebt, der woanders in Vergessenheit geriet, die Münchnerin Gisa Tacchi beispielsweise, der man Pessimismus nachsagte, weil sie das Graue in der Welt sehen konnte, die Gynäkologin Margarete Beutler, die auch in Ostwalds Dirnenliedern herumberlinerte, um spontan nur zwei Damen zu nennen. 1902 erschien die Zehnte Muse erstmals mit einer Auflage von 6000 Stück im Verlag Otto Elsner (der sich damals just mit seiner „Zeitschrift für Theaterwesen, Litteratur und Musik“ Bühne und Welt aus seiner angestammten Spezialnische Eisenindustrie herauswagte und erfolgreich im Schöngeistigen etablierte) und Bern schob immer wieder erweiterte und umgestaltete Auflagen nach. Die Gedichte des „Roland von Berlin“ bspw. findet man erst ab dem vierundfünfzigsten Tausend von 1910. Die ernste Literaturkritik ignorierte das Buch weitgehend (bis heute), das dennoch sein Publikum fand. Im Jahre 1974 erschien die vorerst letzte Auflage (immer noch im gleichen Verlag) mit dann insgesamt 730 000 Exemplaren.
Maximilian Bern hat es nicht erlebt. Seine Frau – jene Olga Wohlbrück, die einst Claire Waldoff vom Figaro aus den Weg zum Kabarett geebnet hatte – hatte ihn längst verlassen, als er während der Inflation all sein Erspartes von seinem Konto abhebt. Es sind mehr als 100 000 Mark. Aber es reicht gerade noch für eine U-Bahn-Fahrkarte. Er fährt ein letztes Mal quer durch Berlin, schließt sich in seine Wohnung ein und verhungert.
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