In der Höhle des Löwen
Wenn du mit uns hineingehen willst,
musst du dem Tier nahekommen wie nie:
musst du Augen haben für die Linien des Körpers,
der sich anschleicht, lautlos,
für das Muskelspiel unter der Haut,
für die Nüstern, die schon die Beute prüfen –
und deine Hand muss ruhig sein,
dass du im gestreckten Hals den Schatten triffst,
der im Fackellicht pulsiert,
den Augen ein Blitzen gibst,
dem geduckten Rücken einen letzten,
zärtlichen Kohlestrich.
Mit ruhiger Hand
1
Das Leuchten der Vergangenheit ist ein trügerischer Grund, es mischt sich mit unseren Träumen von einer Zeit, in der alles anders war, ursprünglicher und, in ein romantisches Begehren verdreht, besser. Zugleich ist seine Ergründung eine Arbeit an uns selbst, unserer Herkunft, unseren Fehlern und Zufallstreffern, unserem, auch wenn er im Einzelnen kaum noch beeinflußbar ist, Umgang mit dem Fundament unserer Existenz auf diesem traurigen Planeten.
Das Leuchten der Vergangenheit vor der Zeit, in den Abgründen der mit jedem Recht archäologisch zu nennenden Epochen, ist dabei wohl am weitesten auf eine wie auch immer gewichtete Interpretation angewiesen, es beeindruckt unsere Vorstellung von einem hinter dem Ablicht der Gegenwart versenkten, fernen Paradiso, das es so wohl nie gab und das uns dennoch beschäftigt.
Es hat damit zu tun, daß in jenem am Horizont kaum noch auszumachenden Äon, in unserem Fall dem der letzten Blüte der Altsteinzeit, die vor 40.000 Jahren begann und vor 12.000 Jahren endete, unsere Spezies wie vollendet auftritt, die Konkurrenz ausschaltet, das Überkommene ein verfeinert und in den Sog einer bahnbrechenden Angelegenheit gerät, eine Revolution in der Erfindung der Kunst, die wie keine, nicht eine andere, irgendwann nicht mehr die Frage nach ihrem Sinn, ihrer Entsprechung in der Natur stellt. Wir spiegeln uns demnach in uns selbst und zugleich einem Zeitstrang, der uns völlig fremd ist, in dem wir jedoch in unserer Ausstattung bereits vollständig sind (wenn man denn von so etwas wie Vollkommenheit sprechen will im Angesicht des Kindchenschemas, das wir erfüllen), all dessen befähigt, womit wir heute Motorräder reparieren, unsere Lebensuhr zusehends im Cyberspace abspulen lassen und uns, glücklich oder unglücklich, verlieben.
In der großen, sich überschlagenden Hektik der Jahrzehnte, in denen wir leben, erscheint uns die unglaubliche Langsamkeit, mit der sich die Vergangenheit bewegt, wie eine Verheißung, wie etwas, über das wir wieder begreifen könnten, wie wir selbst, und sei es nur für die paar Sekunden, in denen der Leib oder der Geist sich für einen Moment in sich selbst zurücklehnt, zur Ruhe kommen und uns auf die Dinge konzentrieren, die so einfach sind wie der Wunsch, nicht zu verhungern … den Baum wiederzuerkennen, der die Richtung des Heimwegs anzeigt … oder auch nur, ohne Sorge an den symbolischen Feuern zu sitzen.
Ob wir den Grund dafür verstehen, weshalb sich die Alten der Kunst, die wir heute in den Tälern und Höhlen in Spanien, Frankreich und im eingeschränkten Maße auch Mittel- und Osteuropa bestaunen, bleibt dahingestellt und wird uns über das pure Faszinosum hinaus, zwischen den gewaltigen Ablenkungsmanövern der Neuzeit, die uns seit jeher vom Eigentlichen versuchen zu scheiden und darin (wir bemerken es kaum) erfolgreich sind, wohl immer beschäftigen.
In der hektischen Langeweile unserer Zeit übersehen wir gern, daß es zu anderen Zeiten möglicherweise nicht anders langweilig war. Wir wollen aber, sei es wie es sei, den Grund dieses Nichtandersseins oder Dochandersseins ergründen; und eben das ist die Stelle, an der die Hinnahme endet und eben jenes zu empfindende Leuchten der Vergangen in die Sektion einer Beleuchtung der Vergangenheit übergeht und eine Art taktile Archäologie unserer Seele beginnt.
2
Am Anfang ist Dunkelheit, nur mühsam beleuchtet. „Unter Tage, im unsicheren Licht der Fettfackel – dabei immer mit ruhigen, genauen Sprachbewegungen erkundet Susanne Stephan die Zeitschichten unserer troglodytischen Existenz“, schreibt Lutz Seiler über den eigentümlich lapidaren Glanz der Worte in den neueren Texten der Stuttgarterin. Es ist das Flackern der Ahnung im Anblick dessen, was der Mensch vor Jahrtausenden schon geleistet hat und das uns nun, nachdem es dem Vergessen allein durch die Berührung mit den Augen entsteigt, fremd und vertraut zugleich und ein wenig unheimlich wie das Unsrige scheint.
„In der Höhle des Löwen“ entstammt dem zweiten regulären Gedichtband von Susanne Stephan, der unter dem Titel „Gegenzauber“ 2008 in Tübingen erschien und bereits vorab, gewissermaßen noch in der Morgenröte des Manuskripts, mit dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet wurde. Im Hauptzyklus des Buches sieht man die Autorin auf einer faszinierenden Reise zu den Fundstätten der Höhlenmalereien und Kleinplastiken des Paläolithikums, deren Gegenwart in der späten Entdeckung der heute weltberühmten Grotte Chauvet im Tal der Ardèche eine einsame Krönung erfährt. Diese Höhle voller Nashörner und Hirsche, Eulen und Pferde hat seit ihrer ersten Erkundung 1994 unser Denken über die frühe Kunst nochmals verändert, die Perfektion in den Darstellungen scheint mit dem hohen Alter der Gemälde nicht zu kommunizieren. Ihre pure Existenz, ihr Rätsel, das nahezu moderne Gepräge ihres ‚Hauptaltars‘, das jagende Löwinnen zeigt, setzen Impulse bis in verschiedene Genres der Gegenwartskunst – und so ist eben jenes ‚Löwenpanneau‘ auch der Anlaß dieses Gedichtes und führt uns zunächst ins Ungewisse hinab.
„Wenn du mit uns hineingehen willst“ – eine solche Suchbewegung ist unbedingt eine, die Mut erfordert, Verve; und sie geht an die Kraftreserven des Nachdenkens über uns: „musst du dem Tier nahekommen wie nie“. Du kannst nur, nein, du mußt stark sein für die Herausforderung, die dich im Dunkel erwartet, und die dich derart in keinem anderen Rahmen deines Lebens betrifft. Der Einstieg in die fremde Welt der Rituale und Geister scheint so gefährlich, daß man Verbündete und Eingeweihte benötigt. Die Stille des Untergrunds birgt den Kosmos der Träume und Ekstasen, die, und wie aus dem Nichts heraus, in der Kathedrale der Ur-Religionen aufflammen, blaken und knistern wie die Fettfackeln der Alten; er reißt einen in eine Anderswelt hinein (oder hinaus), die man nicht mehr vergißt.
Und doch, so scheint es, trifft man in der Kälte und Finsternis vor allem auf sich. Die Bilder, mögen sie teils auch der Fabelebene entspringen, sind menschengemacht, sie entsteigen unseren Begierden und der Vision einer Erfüllung, die etwas Anderes und Verheißungsvolleres proklamiert als die schiere Rückkehr an die Feuer vor den immer aufs Neue zu errichtenden Hütten. Der Abstieg in die Höhlen: für die Ahnen muß er ein Aufstieg aus den Zumutungen des Alltags in die höheren Sphären der Wahrnehmung gewesen sein. Sei es als Jagdzauber, sei es als reine Inspiration – wir stehen heute berührt und fasziniert vor diesem Erbe.
Wenn die Fackel erlischt, ist man verschollen wie die unglaublichen Bilder, die man eben noch sah und die es, laut Susanne Stephans lyrischer Anweisung, zu beenden gilt. Das Gedicht nimmt, und durch die Stelle der Strophenzäsur ganz entscheidend bezeichnet, nämlich Fahrt auf, indem es sich dem Trug der Spiegelung von Gefahr und Erfüllung hingibt: die Hand setzt ruhig den „letzten / zärtlichen Kohlestrich“, der das Felsgemälde vollendet, das längst den Besitzer eben der zeichnenden Hand belauert und so zum Opfer kürt. Davor galt es, eben jenes Lauern, das Muskelspiel der Bestie, in der man sich spiegelt, zu beobachten und zu analysieren. Ein Fehler nur impliziert die Verheerung – indem das Kunstwerk vorzeitig zum Leben erwacht und seinen Schöpfer, im Moment des Erkennens, verschlingt.
Zärtlichkeit ist also angebracht. Und Vorsicht, gepaart mit dem Wissen um die Macht der Ungeheuer, die man selbst imstande ist zu erzeugen. Nur mit ruhiger Hand, das ist die Losung und Aufforderung des Gedichtes, kommt die Vergangenheit über uns, ohne uns zu beschädigen. So tief im Verborgenen liegen die Gründe unserer Suche nach uns selbst, die Angst vor unserer eigenen Monstrosität, der lange verschollenen Tierheit in uns … der Zauber und die gleichzeitige Verdammnis unserer Abnabelung von der alma mater Natur, sei sie uns günstig oder unser Untergang. Und die Rituale der Jahrzehntausende halten die Verbindungen mit der Welt, mit dem Oben und Unten, dem Leuchten und den Abgründen in uns offen.
3
Was bleibt? Werden wir je die Universitäten des Altertums, die in unseren Seelen angelegt sind, begreifen? Wird es am Ende für einen abschließenden „Kohlestrich“ reichen, der uns in den Stand der Erkenntnis setzt und uns zugleich, im Sich-Ründen des Kunstwerks, bedroht und rettet, rettet und bedroht in fortlaufendem Wechsel und kurioserweise unsere Fortexistenz sichert? Sollte es wahr sein, daß Susanne Stephan das in ihrem so stillen wie kenntnisreichen Gedicht meint und beschreibt, geht der Text vielleicht noch ein letztes Mal mit der versöhnlichen Erkenntnis aus, daß die Raubtiere nicht von den Felsen aufstehen, solange wir in Habacht vor dem Abyss bleiben, der wir selbst und unser Traum von einer Realität sind, die seit Äonen in uns reift. Das Leuchten der Vergangenheit, im Licht der Erkenntnis verliert es vielleicht sein irres Flackern. Aber das wissen wir nicht so genau. Wir haben es allein in der Hand, durch Erfahrung und Vorsicht den Wandel durch die Abwelten, der uns prophezeit ist, seien sie heutiger Prägung oder schon 35.000 Jahre alt und warten in der Erde auf uns, mehr oder minder zu bestehen. Das Blitzen der Augen, das du dem Werk am Schluß gibst, es mustert dich und prüft dich, es erweckt den Effet endlich von der Belebtheit unserer Visionen. In weiteren „Gegenzauber“-Gedichten setzt die Autorin dieses Vexierspiel aus Licht und Schatten, Schwarz und Weiß, das sich in ein Ganzes findet, fort. Im zweiten „Befund“-Senryu etwa erweitert sich die Spiegelung ins All und gleißt zugleich zurück in den Leib: „Das dunkle Gestirn / über mir, in mir kreuzend / das helle Getier.“ Ob es das tatsächliche oder das Firmament einer Höhle ist, unter dem wir nun wandeln – es wird uns nicht schaden, die Umstände unseres Vorhandenseins, im Abgleich mit den Kulissen, von denen wir umstellt sind, in Augenschein zu nehmen. Wir werden in dieser nur auf den ersten Blick einfachen Dichtung Susanne Stephans noch einiges zu lesen haben.
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