Lesart
Thomas Kunst* 1965

Verlangsamtes Sonett über das Hauptfeld und die Unmöglichkeit des Aufschließens wegen des Luftwiderstands

ERBÄRMLICH IST DER UMGANG MIT DEN WORTEN
In Poesie und lyriknahen Gremien,
Im Mittelpunkt steht meistens ein Bohemian
Aus Großverlagen, Suhrkamp und Konsorten.

Im Peloton die Tempofahrt genießen
Und nur den Widerstand der Luft verfluchen,
Im Windschatten des Vordermanns versuchen,
Zum Windschatten des Wagens aufzuschließen.

Bei Ortsdurchquerung, Stürzen und Defekten
Der Favoriten in der Heimat klaren
Die Fronten auf, Strapazen des Verzichts.

Die Lutscher hassen Winde und Insekten,
Verpassen es, die Löcher zuzufahren,
Ein Hauptfeld ohne Ausreißer ist nichts.

Ansichtskarte von der Tour

Die Tour läuft. Ein großer Klumpen von Individuen, die ihre Strategien abzuspulen versuchen, geheime Spielchen, die Vorteile sichern und es schließlich einem aus der Masse ermöglichen sollen gegen die Meute zu bestehen, wälzt sich über Strecken, die Riskantes fordern und nicht mit Platitüden zu beantworten sind – auch nicht  mit dem technisch besten Equipment. Regelmäßig reißt das Feld auseinander und fährt sich doch wieder selber zusammen.

Während ganz aktuell FAZ und ZEIT der jungen deutschen Lyrik einen Boom bescheinigen, man sogar von „Sturm und Drang“ lesen kann, gibt es auch Stimmen, die ganz andere Zustände ausmachen: „erbärmlich ist der Umgang mit den Worten“.

Thomas Kunst hat dieses Sonett in einer früheren Version als poetisches Statement in der lyrikzeitung gepostet – es ist das spontane Echo einer Betrachtung, die entgegen dem anhebenden Lobgesang Aspektbereiche in der gegenwärtigen Lyrik hinterfragt, welche von ihr tatsächlich kaum bedient werden. Der heutigen Lyrik fehlt etwas, sagt er.

Der Vergleich mit dem Radsport hinkt , weil es dort im Hintergrund andere Zielsetzungen gibt, aber die Zusammenrottung ist ein schönes Bild für das, was andere „Vernetzung“ nennen und für die Matroschkas, die man aus der „Szene“ nacheinander entschachteln kann.  Um im Bild zu bleiben: es hat sich ein breiter Pulk von mustergültigen Radfahrern zusammenstrampelt, die alle mehr oder weniger gut auf der Höhe der Zeit sind, um dort mitzuhalten, aber auch alle mehr oder weniger den selben Stiefel runtertreten. Lauter trainierte Leute, die wissen, mit welchen Techniken und Strategien man sich behaupten kann. Darunter auch viele Epigonen, denen man rechtzeitig riet, welche Zitate zu vermeiden sind – wenn man nur lang genug an einem Text feilt, wird er irgendwann bestehen können, gegen die Muster, die bereits vorliegen.

Das Vermeiden von alten Mustern ist eines der antriebsstärksten Muster der Gegenwartslyrik, es ist das, was sie im Phänotyp sensationsfähig macht, und genau dieses Schwergewicht, das sich im Gedicht wie ein Anker mitschleppt, ist das Blei, das Thomas Kunst kritisch wahrnimmt und das auch von Lesern als lähmend wahrgenommen wird, weil sie nichts damit anfangen können, wenn das Gelingen von Poesie als Erzeugen bislang unbekannter Textur definiert wird mit dem Argument, dadurch entstünde im Kopf etwas Neues und Sensationelles, Wahrnehmungsveränderung, Erkenntnisbanging.

Man kann alle Muster der Welt durcheinanderwürfeln, Spezialfolien übereinander legen und sehr verzückt neuartige Highlights hineinsehen, das ist ein nettes Spiel (und wichtiger Evolutionsmotor), aber das ist auch ein sehr einseitiger und ziemlich „erbärmlicher Umgang mit Sprache“, weil er das Lebendige der Sprache auf den internen materiellen Konflikt reduziert (den erst der Kopf des Lesenden erzeugt und nicht das Material an sich) und dem Geschehen hart am Wind völlig aus dem Weg geht, nämlich einen Namen zu finden für das, was in der Welt tatsächlich geschieht. Und davon geschieht eine so unglaubliche Menge in bislang völlig unbekannten Zusammenhängen, daß es tatsächlich einem Fahren im Windschatten gleich kommt, wenn Gedichte sich so formulieren (das wird gelehrt und studiert), daß sie hauptsächlich mit einem frischen Trikot daherkommen, statt mit einem frischen Inhalt, der sie nach vorne bringen könnte.

Von „Sturm und Drang“ sind wir noch einiges entfernt. Im Moment trifft noch eher der Vergleich zur Knappschaft – man versichert sich einander vor den Lebenserfordernissen der Nichtlyriker (und der Lyriker, die sich nicht knappschaftsversichern wollen), fährt in einem durch seltsame strategische Strukturen zusammengehaltenen Hauptfeld durch eine experimentell erzeugte Landschaft und streut Demutsgebärden an die wichtigen Stellen.

Das ist der Eindruck, den man gewinnen kann, wenn man dem Boom in die Augen schaut. Die Ansichtskarte von Thomas Kunst sollte man ernst und selbstkritisch lesen. "Antworten enden auf dem Sockel, Fragen am Strick." hat Michael Richter in einem Aphorismus einmal befunden. Die guten Frager werden leider derzeit in der Lyrikszene regelmäßig aufgehängt, damit der Pulk drunter durchfahrn kann.

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