Lesart
Tina Stroheker* 1948

Früh

Schau nicht in die Sonne
hat man uns immer gesagt
laß dich nicht blenden.
Jetzt sind Stimmen im Haus
Wörter, die keine werden.
Ich bin früh aufgestanden
ich habe Musik von damals gehört
ich habe ein Glas zerbrochen.
Zwischen mir und dem Kind
das ich war, wird
der Abstand nicht
größer.

Musik von damals

Tina Stroheker, geboren 1948 in Ulm, lebt in Eislingen an der Fils. Sie studierte Germanistik, Geschichte und Politik in München, arbeitete zehn Jahre lang als Gymnasiallehrerin und seither als freie Autorin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Leonce und Lena-Förderpreis 1981, den Josef-Mühlberger-Preis 2003, und war 1986 Stipendiatin der Villa Massimo Rom. Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller, in der Europäischen Autorenvereinigung Die KOGGE und im deutschen PEN. Karl Krolow attestierte ihren Versen einmal eine „bebende Sensitivität“, die sich auch in diesem Gedicht wiederfindet. „Sie kennt das immerwechselnde Spiel von Bedeutung und Wahrheit zu gut, die Unmöglichkeit dingfest zu machen, was in den Ebenen geschieht, die hinter den Ebenen weit sind.“, schrieb einmal Frank Milautzcki über sie, hier auf fixpoetry.

Die eigentümliche, leichte, und doch nicht loslassende Stimmung dieses Gedichtes umfängt mich, seit ich den Band (Tina Stroheker: Was vor Augen liegt, Gedichte, Klöpfer und Meyer Verlag, Tübingen 2008) aufgeschlagen und das Gedicht zum ersten Mal gelesen habe. Ähnliche eigene Erfahrungen mögen den Hintergrund bilden, dieses dauernde Gefühl, dass „zwischen mir und dem Kind/ das ich war …/ der Abstand nicht größer“ wird; diese dauernde Suche nach Wörtern, die nicht werden wollen; dieses sich in der Welt bewegen und das Gefühl haben, irgend etwas und damit alles nicht verstehen zu können, und dennoch Zufluchten im Wort zu suchen; Stimmen zu hören, Musik „von damals“, und zu wissen, dass man letztlich nichts „verstehen“ kann, allenfalls ahnen. Ein Gedicht, das Ahnung gibt, das nicht erklären will, sondern die ganze Schwere der Leichtigkeit vermittelt. Damit, mit Dichtung, man langsam die Welt verstehen lerne. Wunderschön.

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