Notiz

Ein französisches Bücherpaket schnüren

Über den Sommer schnürte ich mir ein Bücherpaket und es enthielt französische Bücher. Darin waren die Autoren Patrick Deville, Jérôme Ferrari, David Foenkinos, Pierre Michon, Patrick Modiano und Tanguy Viel. Das sind allesamt in Frankreich sehr präsente Autoren und mit Modiano ist nun ein ganz aktueller Nobelpreisträger dabei, der seit ich Ein so junger Hund gelesen habe, zu meinen Lieblingsautoren zählt.

Michon und Deville schreiben einen so umwerfenden Stil, der biographische Elemente, wissenschaftliche Literatur und Fiktion miteinander vermengt, dass einem schwindelig wird davon. Wenn dann ihre Texte Romane genannt werden, so werfen sie auch immer ein neues Licht auf das, was man gemeinhin wissenschaftliche Literatur nennt. Sie selbst sind durch so viele Archivstunden recherchiert, dass sie der reinen Wissenschaft in nichts nachstehen. Vielmehr verschwimmen die Grenzen, lösen sich auf zu einem genrefreien Literaturbegriff.

Michon hat ein Rimbaud-Buch geschrieben, das in den Jugendjahren des Dichters stöbert. Er hat aber auch ein Buch über ein Revolutions-Bild geschrieben, das es gar nicht gibt. Er hat so tiefschürfend daran gearbeitet, so viel über die Französische Revolution geforscht, dass es das Gemälde eigentlich geben müsste. Alle Fakten sprechen dafür. Da es das Bild aber nicht gibt, spielt man mit dem Gedanken, es könne sich dabei eigentlich nur um ein verlorenes Gemälde des Ballhaus-Schwurs handeln.

Deville widmet sich in seinen Büchern dem 19. Jahrhundert, der Wissenschaftsgeschichte und der Kolonialgeschichte zugleich. Sein Buch über Alexandre Yersin, den Schweizer „Entdecker“ des Pest-Virus und „Erforscher“ Vietnams, ist eine Spurensuche. Yersin war ein Wissenschaftler, dem es im Pariser Labor zu langweilig wurde, der lieber in unerforschte Länder aufbrach, der nie den Nobel-Preis bekam, wie einige seiner Kollegen aus dem Institut Pasteur. Wie eine Fußnote in einer wissenschaftlichen Arbeit steht dem gegenüber der Schriftsteller Deville, der dem unbekannt gebliebenen Forscher Yersin zu Leibe rückt, die Orte aufsucht, an denen der Forscher lebte, ihm nachspürt in Marburg, Morges oder Nha Trang, in verstaubten Instituts-Museen oder biographischer Literatur. Plötzlich, wie ein Phönix aus lauter Staub, entsteht ein dichtes Bild des Menschen, der Wissenschaft und der Zeit. Man wünscht sich sogleich mehr dieser ‚unbekannten’ Wissenschaftler, mehr solcher Bücher über sie.

Ferrari und Viel bewegen sich an einer anderen Grenze, spielen mit dem Genre des Kriminalromans, gut gelungen bei Ferrari, der in Balco Atlantico das Schicksal eines jungen, gebildeten und fanatischen korsischen Nationalisten mit den Träumen eines algerisches Einwanderer-Geschwisterpaars verknotet, mit einer Bar und einer minderjährigen Geliebten, die als Abbild der Reinheit und des Abgrund herhalten muss. Viel, hier in Unverdächtig, dagegen bleibt zu durchsichtig vom ersten Augenblick, bedient zwar das Genre, spottet etwas, kratzt aber nur an der Oberfläche und erinnert an späte Chabrol-Filme.

Modiano dagegen spürt in Dans le Café de la jeunesse perdue mal wieder den glanzvollen Pariser 1960er-Jahren nach. Ort der Handlung ist das Café Condé. Aus vier Perspektiven wird die Geschichte des Cafés und seiner Kunden erzählt, im Mittelpunkt steht aber Louki, eine junge Frau, die kurz nach ihrer Heirat ihren Mann verlässt. Der erste Erzähler ist ein Student, der ein Tagebuch über das Kommen und Gehen der Gäste führt, mit Namen oder Spitznamen, sofern er sie weiß, mit genauen Daten der Anwesenheit im Café. Der zweite Erzähler ist ein Detektiv, der die getürmte Frau finden soll. Die dritte Erzählerin ist Louki selbst. Schließlich erzählt Roland, Loukis Geliebter, seine Version der Geschichte. Die Sehnsucht nach der verlorenen Zeit ist fast allen Romanen Modianos eingeschrieben. Hier wird aber noch einmal ein Café Ort der Handlung, ein Ort der Begegnung und der Szene, wie er heute in seiner sozialen Bedeutung kaum zu finden ist.

Die „Delicatesse“ von der Foenkinos schließlich erzählt, ist irgendwo zwischen einem PEZ-Bonbon und einer delikaten, weil Liebesangelegenheit angesiedelt. Der Roman unterhält mit seinen kurzen Kapiteln und dezent-amüsanten Einfällen. So ganz kann man den Erfolg allerdings nicht nachvollziehen. Denn die ganze Geschichte über Liebe, Unglück und neue Liebe und all der Zufälle bleibt wie das Brausebonbon nur leicht prickelnd.      

Habe ich wirklich Sommer-Buchpaket gesagt? Das könnte durchaus ein Herbst- oder Winter-Bücherpaket werden.  

 

Besprochene Bücher, deutsche Ausgaben:

Patrick Deville: Pest & Cholera, Zürich: bilgerverlag 2013
Jérôme Ferrari: Balco Atlantico, Zürich: Secession Verlag 2013
David Foenkinos: Nathalie küsst (La délicatesse), München: C. H. Beck 2012
Pierre Michon: Die Elf (Les onze), Berlin: Suhrkamp 2013
Pierre Michon: Rimbaud der Sohn (Rimbuad le fils), Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008
Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend (Dans le Café de la jeunesse perdue), München: Hanser 2012
Patrick Modiano: Ein so junger Hund, Berlin: Kowalke 2000
Tanguy Viel: Unverdächtig (Insoupçonnable), Frankfurt/M.: Fischer 2011

 

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