Laudatio für Ronya Othmann Förderpreis [Gertrud Kolmar Preis]
Zur Verleihung
des Gertrud-Kolmar-Förderpreises 2019
27. September 2019
Ronya Othmann lesen
Ich habe gesehen
„Meine Granatapfelblüte – meine Granatapfelblüte“ 1 – beim Lesen war mir so, als hätte ich die Zeile oder diese Anrufung viele Male geschrieben gesehen. Als sei sie Fortgang und Essenz des Textes in einem, auch hier „die braut“ genannt.
Wer aber ist diese „braut“?
Im Lied der Lieder, im Hohelied Salomos2– es kann angenommen werden, dass es etwa im zweiten Jahrhundert vor der Zeit entstand – hier finden wir nicht nur jene Braut und ihren Bräutigam, sondern auch das Hohe Lied auf die Natur, auf den Garten, auf jenen Ort, an dem sich die Liebenden treffen. „Ich komme in meinen Garten, meine Schwester, Braut.“ „Ihre Schläfe, wie eine aufgesprungene Granatfrucht.“ Und jemand geht um zu schauen, „ob sie blühn, die Granatbäume.“ Hier treibt der Feigenbaum Früchte. „Ein Büschel Zyperntrauben ist mein Liebster.“ Und an anderer Stelle
„Sieh doch – schön bist du,
meine Liebste,
sieh doch – schön,
Deine Blicke
Tauben.
Sieh doch – schön bist du,
mein Liebster,
ja wie lieb
Unser Bett
Ja wie üppig grün.
Die Balken unseres Hauses –
Zedern,
unser Getäfel –
Wacholder.“
„Weshalb du so traurig bist, beantwortet der Wacholder nicht“, heißt es bei Ronya Othmann.
Ist das Hohelied Salomo eine Sammlung von Liebesliedern, eine Interpretation, die über Jahrzehnte dominierte, oder sind die Liebenden Gott und sein Volk? Wie Rabbi Aqiba sagt. Ein Volk, dessen Existenz sei und sein dürfe, sodaß die Braut den Geliebten, ihn, ihren Gott, lieben darf. 26mal spricht diese Braut ihn an, ruft ihn an. Sie spricht von einem, der – wäre er mein Bruder – „ich küßte dich, ja und keiner verhöhnte mich.“
Ich komme zurück zu diesem „du“ und „dieser braut“ in Ich habe gesehen.
„... baum, dieser baum, an den du dein haar bettest.“
„... bettest du die braut, ihr rotes band, meine granatapfelblüte.“
Die Natur ist es, die die Zeichen der Gewesenen bewahrt, die einstmals mit Sorgfalt bestellte Natur. Ihr Blühen und Gedeihen wird ohne die Beziehung zu den Dagewesenen unterbrochen, abgebrochen, ohne Ordnung seiend.
Die mißbrauchte Natur und mißbrauchten und zerstörten Objekte des Lebens, das Haus, die beschnittenen Mandelbäume, das Dorf werden die Zeug*innen der Gegangenen, der in die Flucht Getriebenen, der Ermordeten, der Katastrophe. Sie bleiben gegenwärtig.
Ronya Othmann beschrieb in dem Text „Vierundsiebzig“, den sie 2019 in Klagenfurt zum Bachmann-Wettbewerb las, wie die Sprache versagte, als die „Abgeordnete Vian Dakhil bei ihrer Rede im irakischen Parlament das, was in Shingal geschah, versuchte in Worte zu fassen, dann mitten in ihrer Rede zusammenbrach und von zwei Parlamentarierinnen aus dem Saal getragen wurde.
„Ich habe den Moderator und den zugeschalteten Reporter im kurdischen Fernsehen gesehen, die, anstatt von Shingal zu berichten, zu weinen anfingen. Die Sprachlosigkeit ist hier offensichtlich. Angesichts der Gräueltaten und ich streiche das Wort Gräueltaten angesichts der Verbrechen und ich streiche das Wort
Verbrechen, weil sowohl das Wort Gräueltaten als auch das Wort Verbrechen nicht tragen. Angesichts dessen, was 2014 in Shingal geschah und was die Vereinten Nationen und das Europäische Parlament später Völkermord nannten, versagt die Sprache.“
Der Völkermord an den Êzîden.
So wie die Autorin hier das Versagen der Sprache beschreibt, versagt sie sich auch im poetischen Text der unaushaltbaren Direktheit, einer Obszönität, die der Ausstellung der Katastrophe innewohnt und gleichwohl dem Zeugnis-Schreiben immer schon immanent ist. Ein nicht aufzulösendes Problem. „Alles lag unter der Zunge, wie Schutt, den spuckst du aus und wartest“ heißt es in „Ich habe gesehen.“
Dieses „Sehen“ ist die Arbeit von jemandem, der die Maulbeerbäume, den Ast, die Wiese und Weide, den Schuh des Soldaten, das Brennen eines Hauses, das Plastiktuch und das kurdische Mädchen, das Camp und den Karton „aufhebt“. Wie jemand, der sich nach einem kleinen Stein bückt und der alles aufsammelt auf diesem Weg:
„umstandslos alles, viele Jahre Leben in Zelten, die Berge und
überhaupt alles, denn „du hast zuviel gesehen und zu viel getragen.“
Jetzt muß die Dichterin „sehen“. Sie stellt sich zu denen, die „zuviel gesehen und zu viel getragen“ haben. Etwas davon hat sie getragen. Mag sein, die Dichterin ist auch die Näherin geworden, die, die „das Grün vernäht“, aber „anwachsen wird es nicht mehr.“
Ein politisches Gedicht, ein Gebet, ein Gedicht mit einer Widmung, an die, die in Camps noch immer sitzen und an die, die nicht reisten, sondern flohen. Und an die, die nicht überlebten. Ein Klagelied und zugleich eine Liebeserklärung an ihre Menschen und ihre êzîdischen und kurdischen Welten.
Vielen Dank, Ronya Othmann.
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