Der Blick der Gazelle

Sachbuch

Autor:
Arash Hejazi
Besprechung:
Gerrit Wustmann
 

Sachbuch

Schmutz Staub Tod - wie der Iran eine Generation um das Leben betrügt

20. Juni 2009. Die Grüne Welle rollt durch Iran. Im ganzen Land protestieren Millionen Menschen friedlich gegen die Wahlfälschungen, mit denen Mahmud Ahmadinejad sich seine zweite Amtszeit als Präsident gesichert hat. Kurz zuvor hatte er die Opposition als „Schmutz und Staub“ bezeichnet, und Revolutionsführer Ali Khamenei hatte in seiner Freitagspredigt eine unmissverständliche Botschaft ausgesandt: Wenn ihr wieder auf die Straße geht, werden wir euch töten. Am 20. Juni 2009 starben 21 Menschen im Kugelhagel der Basij-Milizen, die wahllos in die Menge feuerten. Eine von ihnen war die Studentin Neda Agha-Soltan. Ihr Sterben, das knapp eine Minute dauerte, wurde auf Video festgehalten, während ein junger Arzt und Verleger vergeblich versuchte, ihr Leben zu retten: Arash Hejazi. In den letzten Sekunden ihres Lebens blickte Neda in die Kamera, und die ganze Welt konnte ihn sehen: Den Blick der Gazelle, ermordet von einem brutalen Regime, das jegliche moralische Integrität verspielt hatte. Zwei Jahre später erscheint Arash Hejazis Buch über diese 47 Sekunden, und über die Geschichte einer ganzen Generation. Nedas Generation.

Arash Hejazi, von seinem Vater benannt nach Arash dem Bogenschützen aus dem iranischen Nationalepos Shahnameh, musste wenige Tage später flüchten. Sein Gesicht war auf dem Video deutlich zu erkennen, der Geheimdienst bereits hinter ihm her. Heute lebt er mit seiner Frau und seinem Sohn in London. Er hat alles verloren. Sein Verlag Caravan Publishing House, zuvor einer der erfolgreichsten Verlage Irans, wurde von den Behörden geschlossen, seine Bücher verboten. Sein Lebenswerk war zerstört. Und dennoch, Hejazi bereut nichts. Er hätte es nicht ertragen zu schweigen, so wie die Generation seiner Eltern geschwiegen hat, damals, unter dem Shah.

Hejazi wurde 1971 geboren, acht Jahre vor der Islamischen Revolution, neun Jahre vor dem Beginn des Kriegs gegen den Irak. Er erzählt davon, wie er als Kind von Khomeini fasziniert war, und wie ihn als Jugendlicher die Realität einholte, wie seine Freunde vom neuen Regime verjagt und getötet wurden, vom Kriegsdienst, von den Repressionen und der Zensur, von den Verbrechen, die im Namen Gottes begangen wurden und werden. Er erzählt davon, wie er gegen viele Widerstände seinen Verlag gründete, wie er die Bücher von Paulo Coelho ins Persische übersetzte und sie zu einem riesigen landesweiten Erfolg wurden; er berichtet von den Gängelungen durch den Zensur- und Behördenapparat, und auch von der Öffnung des Landes und der Hoffnung, die in den Neunziger Jahren mit dem reformorientierten Präsident Khatami anbrach.

Er erzählt, wie sehr diese partielle Freiheit die Generation derer prägte, die nach der Revolution geboren waren, so wie Neda. Eine Generation, die ihre Freiheit um keinen Preis aufgeben wollte und sich mit aller Kraft den radikalen Bestrebungen Ahmadinejads widersetzte; eine Generation, deren Träume und Hoffnungen mit dem Wahlbetrug vom Sommer 2009 zerschlagen wurden. Neda musste sterben, weil sie für ihre Grundrechte auf die Straße ging, weil sie fragte: „Where is my vote?“ Ihr letzter Blick ist eine Anklage gegen das ganze Unrecht dieses Regimes, gegen all die Verlogenheit, gegen all die Verbrechen, die nun nicht mehr in den Folterkellern des Evin-Gefängnisses verborgen waren, sondern sich auf offener Straße abspielten, sichtbar für alle Welt.

Was Hejazis Buch vor allem klarmacht, ist dies: Es ist nicht zu Ende. Die Hoffnung besteht, und die Grüne Welle wartet lediglich auf den nächsten Sturm, der sie wieder entfacht. Sie wird nicht aufgeben. Im Sommer 2009 hat das Regime in Teheran seine letzten Chancen verspielt. Es wird sich nicht ewig mit Gewalt gegen eine ganze Nation verteidigen können. In weniger als zwei Jahren steht die nächste Präsidentschaftswahl an, in weniger als einem die nächste Parlamentswahl. Einen weiteren Betrug werden die Mullahs nicht überleben… Ihre Tage an der Macht sind gezählt, so oder so. Hejazi liefert den Grund dazu: „Wir lernten den Tod kennen, noch ehe wir eine Chance hatten, das Leben kennen zu lernen.“

Arash Hejazi: Der Blick der Gazelle. Irisiana Verlag. München 2011.