EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche Kritik. Vom Verschwinden (Die Gedichte Ulrich Kochs)
Das Erscheinen dieses Bandes liegt nun schon eine Weile zurück. Geht man nach der Zeitrechnung des Literaturbetriebs, liegt es wohl in einer uneinholbaren Vergangenheit. Aber Zeit sei, schreibt der Mönch und Philosoph von Ockham in seinem Aristoteleskommentar, etwas, das Gott dem Menschen geschenkt habe, dass er an der Unendlichkeit nicht verzweifle. Zeitlichkeit in einem fast theologischen Sinne scheint mir das zu sein, was den Texten Kochs zugrunde liegt. Nicht dass sie selbst welk sind, aber sie bedenken das Vergehen im Augenblick. Womit auch...
Irrtümer überstehen - Eugen Ruge und die Zeiten abnehmenden Lichts
„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen…“ begann Christa Wolf 1976 ihren Erfolgsroman „Kindheitsmuster“ mit einem bei Faulkner entlehnten Satz. Er könnte auch für Eugen Ruges Anfang September erschienenes Romandebüt „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ als Motto stehen. Ruge hat mehrere Generationen und eine andere Epoche als Wolfs Roman im Blick. Aber auch sein Buch macht verborgene Prägungen erkennbar, die unsere heutige Realität mitbestimmen, obwohl sie auf den ersten Blick von unserem...
Die Hölle, das sind nicht immer die anderen - Oskar Roehler hat mit "Herkunft" einen Roman über (s)eine Familie geschrieben.
Es dauert etwas, bis man in Oskar Roehlers ersten Roman „Herkunft“ hineinfindet. Spröde, bisweilen sperrig ist die Sprache. Sätze wie der folgende sorgen gleich zu Beginn für Verunsicherung: „Beim Überqueren des Platzes erkannte er die Wohnung zwischen den Blöcken, gleichsam im Vorbeigehen, an den alten Vorhängen. Sie verströmten ein merkwürdiges, sentimentales Gefühl.“ Vorhänge, die ein merkwürdiges, sentimentales Gefühl verströmen? Der Verdacht taucht auf, dem Regisseur mangelt es am nötigen sprachlichen Rüstzeug, um ...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Eine Etüde, die man durchspielt, ist kein Meisterwerk - Marion Poschmann's "Geistersehen"
Wer Geister sieht, evoziert Wiedergänger einer vergangenen Zeit, macht ein Abwesendes anwesend, beseelt Totes ohne es dabei zum Leben zu erwecken. Vom Geist ist es nicht weit zum Gespenst, von da aus nicht weit zum Gespinst, zum Gewobenen, zum Text also. Gespenst und Gespinst sind zwei der ältesten Topoi der Literaturgeschichte, sie und ihre semantischen Umfelder haben stets eine poetologische Aufladung erfahren. Marion Poschmann bringt in "Geistersehen" beide Themenfelder zusammen, lässt einen roten Faden durch ihre Gedichte laufen...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Abbrüche, Freiheiten und andere Wagnisse - Einladungen zu Mathias Traxlers Poesie
Um gleich mal mit der Tür ins Haus zu fallen: Wir sprechen hier vom meiner Meinung nach besten und schönsten Gedichtband des letzten Frühjahrs und, wenn ich es recht überblicke, zumindest von einem der besten der letzten Jahre, denn er hat mich als Leser gefordert, und das hat mir gefallen. Außerdem hat Andreas Töpfer dafür einen geradezu kongenialen Einband entworfen. „Es sind Texte, bei denen, wenn wir dem Leser sagen, er müsse sie genauso lesen, wie sie dastehen, er handlungsunfähig bliebe.“ Dieser Satz findet sich auf Seite 33...
Kanonische Räubergesänge - Wawerzineks Raubzüge durch die deutsche Literatur
Mindestens so wichtig wie das Buch, von dem hier die Rede sein soll, ist die kleine blaue Scheibe, die hinten im solide gebundenen und liebevoll nach Ideen des Dichters gestalteten Band eingelegt ist. Die CD-Aufnahmen von Peter Wawerzineks „Raubzügen durch die deutsche Literatur“ beweisen, dass dieser eigenwillige Autor als Lyriker ein Unterhalter im besten Sinne ist: Ein Wortjongleur, ein norddeutsches Lästermaul und eine Dichterseele, die den Spaß an der Sprache aus dem prallen Leben und nicht aus trockenen Theorien nimmt - selbst dann...
Ein Haus gedanklich einrichten. Über Carola Grubers Erzähldebüt
'Möglichkeitssinn', sagt der Klappentext und erinnert mich spontan an Leibniz' Begriff von Wirklichkeit. Diese komme zustande, nachdem (auf Planungsebene) unendlich viele mögliche Welten projektiert, aber aufgrund von Mängeln wieder verworfen werden und Realisierung am Ende nur 'die beste aller möglichen Welten' erfahre. Wirklichkeit als die Spitze des Eisbergs ihrer Möglichkeiten. Logisch-formal ist die Welt also nicht nur real-existierend, sondern auch möglich-existierend. Dieser Gedanke bedeutet Frischluft, etwas dem Hier-und-Jetzt voraus...
dyr-bul-schtschil - Das Sa-umnische als sozialer Dialekt der russischen Futuristen
Vor 99 Jahren veröffentlichten Dawid Burljuk, Welimir Chlebnikow, Alexej Krutschonych und Wladimir Majakowski Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack, das Manifest des russischen Futurismus. Passend dazu ist im Leipziger Verlag Reinecke & Voß unlängst die Neuveröffentlichung der Phonetik des Theaters erschienen, eine Textsammlung mit Aufsätzen und Gedichten von Alexej Krutschonych und seinen Mitstreitern. Das Buch, übersetzt und herausgegeben von Valeri Scherstjanoi, ist gedruckt nach der 2. Ausgabe, die 1925 im Moskauer Verlag des...
Geschichten einer neuen Generation - Migrationsliteratur in Großbritannien
Anders als in Deutschland, existiert in Großbritannien seit rund 30 Jahren eine kreative, innovative und nicht zuletzt produktive Migrationsliteratur – sprich: eine Literatur von Autoren, die aus einem anderen Land stammen als dem, in dem sie leben. Gemeint sind damit nicht nur Schriftsteller wie Salman Rushdie oder V.S. Naipaul, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts nach England kamen, und deren frühe literarische Erfolge – Naipauls Durchbruch kam 1961 mit dem Roman „Ein Haus für Mister Biswas“,1971 erhielt er den renommierten Booker Prize...
Klang des Ostens – Ildar Abusjarows ungewöhnliche Erzählungen
Dies ist definitiv ein anderer Sound, als wir ihn derzeit von den jungen Milden des Berliner Literaturgewerbes gewohnt sind: Der 1975 geborene, tatarisch-russische Autor Ildar Abusjarow aus Moskau beschreibt in seinen Erzählungen die Welt aus der Sicht junger Männer, die sich weitab westlicher Metropolen,tief im eurasischen Osten des Kontinents, des Lebens zu erfreuen versuchen. Mit virtousen Texten, deren Klangfarben die Berliner Literaturwissenschaftlerin Hannelore Umbreit feinfühlig aus dem Russischen ins Deutsche übertrug, werden wir...
Mathematik ist nicht die Welt – wie Physiker Realitäten verwechseln
Drehen sich Sonne, Mond und Sterne um die Erde oder dreht sich die Erde um die Sonne? Die Frage ist uralt und die Antworten dazu sind es ebenso. Zu Ptolomäus Zeiten, also etwas mehr als hundert Jahre nach Christi Geburt, konnten die freiäugig beobachtbaren Bewegungen der Planeten und Sterne als geozentrisch erklärt werden, wenn man sie komplizierte Schleifenbahnen ausführen ließ – immerhin: sie konnten so erklärt werden, daß die Erde im Mittelpunkt war und das aufscheinende Bild insgesamt konsistent. Schon damals siegte das mit dem Triumph...
In glühenden Schuhen durch den Märchenwald – Johanna Schwedes' Lyrikdebüt
Als fern jeder Coolness stehender 40-jähriger Mann kann ich zugeben, was viele meiner Freunde in den Jahren zwischen weiterführender Schule und Vaterschaft zu verleugnen wussten: Ich liebe Märchen! Waren es als Kindergartenkind noch "Das tapfere Schneiderlein", "Jorinde und Joringel" oder die "Die Bremer Stadtmusikanten" auf abgenudelter EUROPA-Schallplatte, so war es in späteren Jahren das Epos um die Familie Skywalker. Aber ob nun die Brüder Grimm oder George Lucas, Märchen beschwören in mir unweigerlich heimelige Erinnerungen...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Reise zum Mittelpunkt der poetischen Welt – und weiter nach Süden. Das „Dickicht“ von Ulrike Almut Sandig
Cremefarben der Umschlag, das Titelwort übereinander geschichtet, so dass das „Dickicht“ auch visuell entsteht. Doch es gibt eine Spur durch dieses Dickicht, ein Kompass weist den Weg, der im Prologgedicht gleich erwähnt wird. „In dir / die Nadel, die zittert und immer hinzeigt /auf Norden, obwohl du nicht weißt, was da liegt.“ Das gesamte Buch ist eine Reise, dorthin, wo die „verschwundenen Dinge“ liegen, an einen Ort, der „auf keiner Karte verzeichnet“ ist. In den Gedichten gibt es Positionsbestimmungen, die gleich wieder aufgehoben werden, und...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Menschen, die aneinander lehnen in einer Landschaft - Andreas Altmanns Gedichte über das zweite Meer
Ein rostfarbener Hirsch, der sich mintfarben in der Luft spiegelt und ein drittes Mal in Weiß, doch abgeschnitten, so dass nur der untere Teil des Körpers sichtbar ist. Das Cover zusammen mit dem Titel macht neugierig. „Das zweite Meer“ und ein gespiegelter Hirsch? Meer und Wald, Tier und Luft, Himmel und Gedoppeltes. Hier klingt schon eine Motivik an, die natürlich allzu komplex ist um auf einem Bild Platz zu finden. Doch das sanfte Cover betrachtet man gern. Freundliche Naturlyrik ist allerdings nicht zwischen den Deckeln des fein...
In der Blaupausenlandschaft. Man müsste die ganze Gegend erzählen, die Zeit: Peter Kurzecks "Vorabend"
Schon vier!, staunt der Vater ein ums andere Mal, wenn er seine Tochter ansieht. Staunt auch und immer noch über sich selbst, "jetzt hast du ein Kind!" Die Kleine dagegen hat jeden Morgen nur Augen für die Erstklässler, die ihr auf dem Weg in den Kinderladen begegnen. Erst vier!, seufzt ihr Blick, da sie die eigene Zukunft so glänzend im Visier hat. "Muß sie suchen und sehen und muß ihnen zusehen und muß ihnen nachsehen. Und dabei an meiner Hand zerren vor Begeisterung. Schulkinder, sagt sie andächtig. Schulkinder!" Carina heißt...
Rückkehr ins Nirgendwo - das Nevermind des Ivan Blatný
Als Jürgen Serke 1987 seinen sensationellen Band „Die verbannten Dichter“ herausgab, überraschte der „Fall Ivan Blatný“. Vom kommunistischen Regime seiner tschechoslowakischen Heimat seit den 1950er Jahren offiziell totgesagt, lebte ein bedeutender Vertreter des Vorkriegs-Surrealismus in England hinter den Mauern einer Irrenanstalt. Eine Schwester hatte sich seiner besonders angenommen und die vollgekritzelten Kassiber und Zettelchen, die über Jahrzehnte achtlos weggeworfen wurden, an sich genommen und damit gerettet...
Die Macht unter den Kittelfalten der Frauen - Tirol in Hans Haids Prosa
Sie haben zu den Dörfern und den Dorfbildern gehört, zu den Rändern, zu den spannendsten Außenseitern himmlisch-katholischer Gebetsdörfer in sogenannten Heiligen Landen. Hans Haid erzählt in seinem jüngst erschienenen Prosatext „Die Landgeherin“ die Geschichte einer aus dem Passeiertal stammenden Landgehersippe im ausgehenden 19. Jahrhundert. Widmet sich also der Thematik der Jenischen (hierzulande meist Karner, Dörcher oder Laniger) in Tirol und Südtirol, die, verarmt und in ihren Heimatdörfern unerwünscht, durch die Lande zogen...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Das Gewicht der Tiefdruckgebiete - Thomas Spaniels neue Gedichte
In diesem Buch ist von den Mühen der Ebene die Rede, dem Immer-wieder-Aufnehmen der Denkrituale. Der Literaturbetrieb, dem es nach Lautheit und den Träumen einer vorschnellen Erfüllung ist, überhört gern und schnell die stillen und bedächtigen Arbeiter im jeweiligen Bergwerk ihrer Gedichte, letzt sich am Schildern dürftig gewaschener Stellen im weiblichen Unternabelgebiet, ergeht sich, wenn er nichts anderes zur Hand hat, am Denis-Scheck’schen Ohrengewackel. So einfach könnte es sein, hört man, so einfach, wenn es nur nicht immer um Literatur...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Musik aus der Schmelze - Gesammelte Gedichte von Seamus Heaney
Uff! 432 Seiten sind ein gewichtiger Brocken, auch wenn man bei einem zweisprachigen Buch natürlich die Hälfte rechnen muss.
Vor mir liegt „Die Amsel von Glanmore“, eine englisch-deutsche Ausgabe mit Gedichten des irischen Lyrikers und Nobelpreisträgers Seamus Heaney. Sie ist in diesem September im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen, herausgegeben von Michael Krüger, und versammelt ausgewählte Gedichte aus 11 Einzelausgaben von 1966 bis 2006. Nach diesen Ausgaben ist das Buch auch gegliedert. Die jeweiligen...
Schmutz Staub Tod - wie der Iran eine Generation um das Leben betrügt
20. Juni 2009. Die Grüne Welle rollt durch Iran. Im ganzen Land protestieren Millionen Menschen friedlich gegen die Wahlfälschungen, mit denen Mahmud Ahmadinejad sich seine zweite Amtszeit als Präsident gesichert hat. Kurz zuvor hatte er die Opposition als „Schmutz und Staub“ bezeichnet, und Revolutionsführer Ali Khamenei hatte in seiner Freitagspredigt eine unmissverständliche Botschaft ausgesandt: Wenn ihr wieder auf die Straße geht, werden wir euch töten. Am 20. Juni 2009 starben 21 Menschen im Kugelhagel der Basij-Milizen, die wahllos...
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