Parodien. Wawerzineks Raubzüge durch die deutsche Literatur

Gedichte

Autor:
Peter Wawerzinek
Besprechung:
Martin Jankowski
 

Gedichte

Kanonische Räubergesänge - Wawerzineks Raubzüge durch die deutsche Literatur

Mindestens so wichtig wie das Buch, von dem hier die Rede sein soll, ist die kleine blaue Scheibe, die hinten im solide gebundenen und liebevoll nach Ideen des Dichters gestalteten Band eingelegt ist. Die CD-Aufnahmen von Peter Wawerzineks „Raubzügen durch die deutsche Literatur“ beweisen, dass dieser eigenwillige Autor als Lyriker ein Unterhalter im besten Sinne ist: Ein Wortjongleur, ein norddeutsches Lästermaul und eine Dichterseele, die den Spaß an der Sprache aus dem prallen Leben und nicht aus trockenen Theorien nimmt - selbst dann, wenn das Thema der heilige Kanon der großen deutschen Literatur ist…

Aber der Reihe nach: „Parodien – Wawerzineks Raubzüge durch die deutsche Literatur“ heißt der jüngst im Galiani Verlag Berlin erschienen Gedichtband, in dem fast fünf Dutzend poetische Parodien auf die großen und kleinen Geister der letzten hundert Jahre deutscher Literatur versammelt sind. Peter Wawerzinek, der 1954 in Rostock geborene Autor, der im vergangenen Jahr in Klagenfurt mit seinem Roman „Rabenliebe“ den Bachmann- wie den Publikums-preis eroberte, hat diese Dichterparodien im Laufe dreier Jahrzehnte geschaffen und nun neu gesichtet. Von Arp bis Zweig, von Sascha Anderson bis Feridun Zaimoglu nehmen die mit großer Spottlust verfassten Gedichtetüden die stilistischen Eigenheiten populärer deutscher Dichter aufs Korn und beweisen zugleich die Belesenheit, die Beobachtungsgabe und den Respekt des Anarcho-Poeten Wawerzinek gegenüber seinen Kollegen.

Seine literarischen Karikaturen greifen geschickt nach dem Heiligsten der deutschen Leser: dem hehren Klang der Dichter – den Stoff dafür liefert das bekannteste Märchen der Gebrü-der Grimm, das Rotkäppchen. Anhand dieser Heiligtümer werden die lyrischen Sounds der letzten hundert Jahre genüsslich durchdekliniert… Die literarischen Klassiker der Vorkriegs-zeit dreht Wawerzinek mit allerlei Späßen bezüglich Satz und Schriftform durch den Wort-wolf, ebenso wie die Lieblinge des deutschsprachigen Westens und des Ostens, und auch unseren Gegenwartsdichtern ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Im Buch erscheint etwa das Frederike Kempner zugedachte Rotkäppchengedicht als Ode in altdeutscher Schrift gesetzt, das von Peter Handke in einer an Steinersche Waldorflettern gemahnenden Typografie. Brecht bekommt ein kämpferisch-knappes „Lied vom Gefressenwerden“ mit Versalien am Zeilenanfang, Frank Schätzings Rotkäppchentext formt eine Fischgräte und Thomas Bern-hards ist als Brief an den Verleger Unhold verfasst. Eine Günter Wallraff zugedachte Rotkäppchen-Variante wird unter dem Titel „Psst“ als Geheimbotschaft gar komplett durchgestrichen abgedruckt. Werden all diese Texte auf der beiliegenden CD vom Verfasser selbst vorgetragen, erreicht das literarische Vergnügen seine schnoddrige Vollendung.

Wawerzineks literarische Parodien haben eine lange Vorgeschichte. In den Achtzigerjahren zog er als kaum bekannter Stehgreifdichter durch die Untergrundszene der DDR und trug mangels Veröffentlichungsmöglichkeiten seine spöttischen Variationen auf der Deutschen liebstes Märchen im Stile der sprachzertrümmernden Szenedichter vom Prenzlauer Berg oder von Christa Wolfs zweifelnder Betroffenheitsprosa in Kneipen und Szenetreffs vor. Lauscht man heute Wawerzineks mündlichem Vortrag, der übrigens seinen Texten kommen-tierend kleine Episoden und Gedankenvolten hinzufügt, wird man daran erinnert, das Literatur eine Stimme zu hören heißt. Wawerzineks Stimme verlockt, deklamiert, singt, flötet und posaunt - und in seinem unüberhörbar norddeutschen, seinem Mecklenburger Dialekt schwingt der Schalk der Bänkelsänger und Schnurrenerfinder aus den Dorf- und Hafenkneipen mit, der diesen Textkarikaturen eine versöhnliche Wärme mitgibt. Wawerzinek setzt die Bauernschläue der nördlichen Provinz mit Vergnügen in Kontrast zu den Attitüden der literarischen Großstadt-Heroen, wobei ihm freilich das Herunterbrechen großer Poesie auf ein Grimmsches Hausmärchen behilflich ist. Dank seiner beherzten Vortragskunst funktionieren diese Textparodien oft auch dann, wenn man den verspotteten Text oder Dichter nicht genau kennt. Hier zeigt sich, dass der Autor jedoch seine Zuhörer sehr genau kennt - und dass der Impuls für diese norddeutsche spoken word poetry wohl aus der direkten Begegnung mit dem Publikum entstanden sein mag.

„Wawerzineks Raubzüge durch die deutsche Literatur“ sind als klassische Lyriklektüre kaum geeignet. Dieses Buch sollte man nicht auf dem Nachttisch liegen haben, sondern es sich besser an trüben Tagen am Küchentisch oder bei größeren Zusammenkünften gegenseitig vorlesen. Am bequemsten aber wäre es, den mitgelieferten Tonaufnahmen des Autors zu lauschen, sich vom Charme seiner Einfälle becircen zu lassen und dabei in den Texten zu blättern. Wawerzineks poetische Fingerübungen betreiben deutsche Literaturliebe als textkritisches Formenspiel, als spöttisches Sprachexperiment, als spielerisches Vergnügen – belesene Schelmenliteratur, bei der der Dichter selbst der Schelm ist.


Peter Wawerzinek: Parodien. Wawerzineks Raubzüge durch die deutsche Literatur. Mit einem vom Autor eingelesenem Hörbuch. Verlag Galiani, Berlin 2011.