Gedichte
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Reise zum Mittelpunkt der poetischen Welt – und weiter nach Süden. Das „Dickicht“ von Ulrike Almut Sandig
Cremefarben der Umschlag, das Titelwort übereinander geschichtet, so dass das „Dickicht“ auch visuell entsteht. Doch es gibt eine Spur durch dieses Dickicht, ein Kompass weist den Weg, der im Prologgedicht gleich erwähnt wird. „In dir / die Nadel, die zittert und immer hinzeigt /auf Norden, obwohl du nicht weißt, was da liegt.“ Das gesamte Buch ist eine Reise, dorthin, wo die „verschwundenen Dinge“ liegen, an einen Ort, der „auf keiner Karte verzeichnet“ ist. In den Gedichten gibt es Positionsbestimmungen, die gleich wieder aufgehoben werden, und ein verschwundenes lyrisches Ich, das doch gerade durch sein Sprechen anwesend ist und selbst nach dem Ende des Buches „immer noch hörbar“.
Der Gedichtband ist konzeptuell aufgebaut: er besteht aus drei Kapiteln, die mit „Norden“, „Mitte der Welt“ und „Süden“ überschrieben sind und denen insgesamt ein Gedicht voran und nachgestellt ist. Die „Mitte der Welt“ enthält logischerweise nur ein einziges Gedicht und ihre Linie verläuft in der Mitte des eigenen Körpers, wo sich im Ich ein Riss befindet, der vernäht werden kann. Unbenannt bleibt hier die Nadel, die als Kompassnadel, Schallplattennadel oder Tannennadel an anderer Stelle auftaucht. So werden Motive und Themen immer wieder aufgenommen und variiert, in einer Suchbewegung nach dem Zuhause, auf das die Kompassnadel zeigt: Es ist im Inneren, im Gedicht, im Unterwegs-Sein.
Die Gedichte des Bandes vollziehen eine Suchbewegung als Reise in einen imaginären Süden, den man nie erreichen kann, weil er die von Kafka im vorangestellten Motiv beschriebene Schwerelosigkeit ausmacht, das Leichte und Lichte. Gleichzeitig stellen die Gedichte aber das zu suchende Zuhause dar, denn das Zuhause hat das Ich „selbst gedichtet“. Dieser scheinbare Widerspruch macht einen großen Zauber des Buches aus. Die Gedichte sind in einer verstehbaren Sprache geschrieben, die aber so voller Bedeutungsebenen ist, dass sie niemals simpel oder kindlich wird. Kinderlieder, Abzählreime, Grimmsche Märchen wie „Brüderchen und Schwesterchen“ oder „die zertanzten Schuhe“, Wiegenlieder, wie etwa aus „Des Knaben Wunderhorn“ oder die Welt der Dichterin Emily Dickinson schwingen in den Texten mit. Vom kindlichen Sein haben sie das große Staunen behalten und besitzen gleichzeitig das sprachliche Geschick und den hintersinnigem Humor eines gereiften Ichs, das sich der Größe des Universums bewusst ist.
Das Epilog-Gedicht ist anstelle eines Titels mit dem Unendlichkeitszeichen überschrieben, es geht um das Kratzen der Nadel auf der Schallplatte, wenn „das letzte Lied aus ist“. Dann „sind wir immer noch hörbar“, das Ich, das Du und die anderen: die anderen, das sind auch wir, die Leser, die mit durch das „Dickicht der Verben“, das „Dickicht der hohen Gebäude“ geschlichen sind und feststellen, dass sie immer noch da sind, so wie das Ich, das in den Texten spricht. Die Behauptung des Abwesend- oder Verschwunden-Seins dieses Ichs in den Gedichten hat auch einen eigentümlichen ansprechenden Widerspruch, ist doch das lyrisch Ich genau mit dieser Behauptung anwesend und mit einer Stimme für uns lesbar.
Das Abwesend-Sein, das Verschwinden, das sich Vergewissern eines Gegenübers, diese immer wiederkehrenden Themen werden in einem märchenhaften Zauberspruch aufgelöst: Wenn man im rechten Moment (jetzt) am rechten Ort ist (überall) sieht man alles, was zählt.
Erleuchtung, sagt der buddhistische Meister, kann in jedem Moment geschehen. Und so meint man nach der Lektüre dieses Bandes tatsächlich noch lange das Lied ohne Worte zu hören, das unter allen Gedichten mitschwingt und noch lange nachklingt. Solange wir selbst nicht aufhören.
„Dickicht“ ist ein konzeptuell durchdachter Band voller Musikalität, Witz, Sehnsucht und Schönheit.
Originalbeitrag
Ulrike Almut Sandig, Dickicht, Schöffling und Co. Frankfurt 2011.