Vom Wechsel der Reservate - Paulo Teixeira geht neue Wege
„Schreiben heißt: die Welt mit ihrer Präsenz aufrufen“ schrieb der portugiesische Dichter Paulo Teixeira 1988 in seinem Gedichtband A Região Brilhante. In seinem Fall war das sehr oft und sehr lange Ekphrasis, eine Beschreibung der Zeit als Gemälde, eine Darstellung der Welt als Zeitbild, von einer poetischen Existenz entdeckt und herangezoomt. Und immer war es ein meist melancholischer Anderer, der dabei die Visionen des Zerfalls und die unausweichlichen Tendenzen des Vergehens zu seiner Palette machte und sich die Welt als Teppich...
Sachsen ist auch eine Welt – das große Hausbuch der zeitgenössischen sächsischen Lyrik
Wer die lyrischen Neuerscheinungen ein wenig im Blick hat, der weiß, dass so ziemlich jedes Kalenderjahr mit zumindest einigen interessanten Anthologien aufwarten kann, und ja: Ich lese sie gerne. Neulich wurde ich von einem Journalisten gefragt, was ich denn lieber lesen würde, Anthologien oder Einzelbände – eine Frage, auf die ich keine wahrheitsgemäße Antwort geben konnte. Ich lese auch gerne Einzelbände, aber ob ich einen guten Einzelband einer guten Gedicht-Anthologie vorziehe, oder auch andersrum, kann ich nicht...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Volle Packung, Schulstoff gleich - Gedichte von Thomas Kunst
Es könnte sein, dass da ein Roman entsteht, auf der Metaebene. Irgendwo auf den Rückseiten der Wolkenkratzer, zwischen den Zeilen markiert von Feuerleitern und Straßenkreuzungen. Ein Roman, der sich zusammensetzt aus Gedichten, die in den letzten 25 Jahren nach und nach und in den verschiedensten Verlagen veröffentlicht wurden. Kunst ist einer unserer Produktivsten und man kommt gar nicht in die Situation, sich sorgen machen zu müssen, weil eine Publikationspause nun so lang schon anhält.Er ist präsent, in aller Munde...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Die Verstrickung während Geschichte geschieht - Paulus Böhmers Psychogramm einer Zeit geht weiter
Fast 350 Seiten Lyrik, elf Langgedichte. Das ist viel, das ist sogar enorm viel. Zumal angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Band um die Fortsetzung eines Zyklus handelt, dessen erster Teil ebenso umfangreich war. Das ist mehr Poesie als viele Werkausgaben zu bieten haben, das kann man fast schon als Zumutung betrachten. Oder als megalomanische Spitze des Alterswerks eines deutschen Dichters. Paulus Böhmers Interesse liegt jedoch kaum darin, sich selbst ein Denkmal zu setzen. Sein Kaddish, sein Lobgesang, ist...
Zwischen Antisemitismus und Identitätssuche - Kerstin Schoor untersucht die deutsch-jüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945
Als vor einigen Jahren die Tagebücher Victor Klemperers der Jahre 1933 bis 1945 erschienen, war dies eine kleine historische und auch literarische Sensation. Klemperer wollte in ihnen – wie er es selbst nannte – „Zeugnis ablegen bis zum Letzten“. Von den Nationalsozialisten verfolgt und mit Berufsverbot belegt, wurde für den Romanisten das Tagebuch zu seinem ständigen Begleiter. Akribisch vertraute er ihm alle seine Erfahrungen und Eindrücke an und erschuf so ein ebenso verstörendes wie einzigartiges historisches Dokument...
Schere, Stein, Papier und der mögliche Zustand - Christian Steinbachers Gedichte und Stimmen
Der entrückte Zustand einer Figur wird in der Literatur manchmal beschrieben mit der Fügung, dass diese Person Stimmen hört. Dabei wird selten dargelegt, was diese Stimmen eigentlich sagen. Christian Steinbacher, ein Meister der entrückten Lyrik nennt sein Buch „Winkschaden, abgesetzt“, Gedichte und Stimmen, darin erfahren wir endlich, was diese Stimmen von Entrückten sprechen könnten. Schon das Wort Winkschaden ist ein Kosmos für sich, bedeutet er doch in der Geheimsprache von Eisenbahn-Nostalgikern, dass aus dem Fenster ...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Zu klug und zu durchdacht und dann doch mitten im Weg - Gedichte von Dirk von Petersdorff
Wahrscheinlich gibt es in der Literaturwahrnehmung keine Generationengerechtigkeit. Man kann sich nicht auf den Zeitkern der Texte berufen, was welk ist, ist welk. Wahrscheinlich trifft das, was das Leben zuweilen so unangenehm macht, dieser irreversible aber ständig anhaltende Alterungsprozess auf lyrische Texte im besonderen Maße zu. Wen kümmert angesichts des Falls der nordafrikanischen Regimes, was Angehörige meiner Generation bei der Betrachtung des Berliner Mauerfalls gedacht haben? Ein anhaltendes Interesse findet...
Spiel mit Archetypen – Sophia de Mello Breyner Andresen nutzt und verpasst Chancen
Ein Traditionsverlag wechselte den Besitzer. Kristof Wachinger übergab im Sommer 2010 kurz nach seinem 80. Geburtstag den drei Generationen im Familienbesitz befindlichen Verlag Langewiesche-Brandt an C.H. Beck, nicht ohne noch einmal drei Bücher vorzulegen, die deutlich seine Verlegerhandschrift trugen, u.a. zwei Gedichtbände, zu denen er wie bei zahlreichen anderen Titeln im Kellergeschoß des Ebenhausener Verlagshauses auf seiner dort eingerichteten "Offizin Tertia" die Umschläge eigenhändig setzte und druckte...
Schreibraum jenseits aller Beschränkungen - neue Prosa von Friederike Mayröcker
„alles aus Einsamkeit komponiert heute 1/2 5 Uhr morgens“ - Die Schreiberin nachts auf dem „Soffa“, in tiefer Trauer über den Tod des Gefährten, „so weinend so starrend von Unrat so mit ausgebüschelten Flügeln und Armen“, „und der Winter tappte gegen die Scheiben“. Sie schreibe „aus Wehmut, aus Trauer, aus Unglücklichsein“, sagt Friederike Mayröcker. „So wie Hungernde Baumrinde essen, so die Vereinsamten = die einsame Seele : Bücher, Sätze und Worte, Musiken, die Abendröte, den Fliederbaum.“ ...
EXKLUSIV auf FIXPOETRY: Lyrik - jede Woche eine Kritik. Beiwerk von Beiwerk - Nora Gomringers Nachrichten aus der Luft
Inmitten eines weißen Kreises ist die Silhouette eines Hundes auf einem roten Dreieck mit geschwungenen Seiten zu sehen. Enigmatischer noch: Die zwei zackigen Pfeile, die kreuz und quer über das Cover des Bandes verlaufen und deren zugespitzte Enden in Richtung des Ausgangspunktes zeigen. „Nachrichten aus der Luft“ steht links im unteren Viertel – mit diesen Nachrichten, die Nora Gomringer in ihrem fünften Gedichtband abschickt, verhält es sich ähnlich wie mit diesen beiden Vektoren: Sie verweisen höchstens noch auf sich...
Bunt unterwegs und soll doch bleiben – Tina Gintrowksis Lyrik
Naja – man muß nicht grübeln um ein gutes Gedicht zu schreiben (oder zu lesen). Es gibt Menschen, die Text empfinden und ihn sehr melodisch leben bei weit offenen Fenstern und in leeren Räumen. Irgendwie paradox: das flattert wie von selbst, wenn man dicht beim Eigenen ist. Man steht da und jemand sitzt bereits da im Schneidersitz oder schlägt einen Flickflack. Etwas purzelt in den whirlpool Welt. Wenn man das Eigene aber hinter einem Schilderwald nicht sieht und nicht weiß, was man aufsperren kann...
Ein Mann mit Ecken und Kanten - David Mazzuchellis erster Comic-Roman
Der neue Comic des Amerikaners David Mazzucchellis „Asterios Polyp“ mag erzähltechnisch ein sperriges Monstrum sein. Kunstästhetisch jedoch ist es ein umwerfendes Kleinod in der vom Graphic-Novel-Wahn gleichgeschalteten Comicwelt. - Kein literarisches Genre wächst in einem solchen Maß, wie derzeit die Comicliteratur. Unter dem Schlagwort der Graphic Novel werfen die Verlage ein Sprechblasenband nach dem anderen auf den Markt. Darunter sind viele hochkarätige Werke, aber auch...
Taumeln gehört zum Aroma – Göttlicher Gestank von Ottó Tolnai
Ganz im Norden Serbiens in der Vojvodina, einem Ausläufer der pannonischen Tiefebene, an der Grenze zu Ungarn lebt Ottó Tolnai, einer der wichtigsten Autoren der zeitgenössischen ungarischen Literatur, dessen Werk auf Deutsch allerdings kaum greifbar ist. Zwei Erzählbändchen sind erschienen: Ich kritzelte das Akazienwäldchen in mein Heft (2002), das Ilma Rakusa so rezensierte: ”Ungemein suggestiv entwirft Ottó Tolnai eine Welt, deren elementare Archaik ans Gewalttätige grenzt, ohne einen Rest von Poesie zu verleugnen.“...
Das lyrische Gesamtwerk eines bekannten Unbekannten - H.G. Adlers Gedichte
Bekannt geworden ist H.G. Adler durch seine Berichte aus Theresienstadt, Auschwitz und Niederorschel, einem Nebenlager von Buchenwald. Sein 1955 erstmals publiziertes Buch „Theresienstadt 1941–1945, das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft“ gilt als Standardwerk der Holocaust-Forschung. Aus einer deutschjüdischen Prager Familie stammend, 1910 in Prag geboren, wo er auch studierte, überlebte er als einziger seiner Familie den Holocaust. 1947 emigrierte H.G. Adler nach London, wo er 1988 verstarb. Sich selbst definierte...
Lyrikdebut mit fatalistischem Charme - Sara Ehsan sucht nach Öffnungen
Die junge Dichterin Sara Ehsan, geboren in Sharoud (Iran), seit 1986 in Deutschland, vergleicht das Leben mit einem „sich / Kratzen an einer / Hauswand.“ Genau das tut sie auch in ihrem Lyrikdebüt „Deutschland Mon Amour“, das soeben im Bremer Sujet Verlag erschienen ist, illustriert von dem in Griechenland aufgewachsenen Künstler Hannes Haus: Sie kratzt und reibt am Leben und nimmt den zum geflügelten Wort gewordenen Culture Clash mit bissigem Augenzwinkern aufs Korn. Es sind Gedichte, deren fatalistischem...
Krimi in toten Gassen - und weitere Opfer von Stefanie Kremser
Ich weiß, dass ich mich mit den folgenden Bemerkungen bei Krimi-Fans nicht beliebt mache. Natürlich konsumiere auch ich Krimis. Kommt man ja gar nicht drum herum. Nicht nur in Buchhandlungen, auch wenn ich den Fernseher anschalte und gemütlich davor sitze, kann ich mich kaum entscheiden, welchen Inspektor oder Kommissar ich in welchem Programm ansehen soll und meistens fast übergangslos, an Feiertagen nicht einmal durch Nachrichten getrennt, den nächsten. Krimi-Fans sind stolz, dass ihr Genre...
Das Vermissen vermessen - Hannes Köhlers Roman fragt in Spuren
Es beginnt eigentlich mit einem fast zum Klischee geronnenen Geschichten-Topos: Jemand geht Zigaretten holen und kommt nicht mehr wieder. So fängt auch der Udo Jürgens-Schlager „Ich war noch niemals in New York“, an es ist auch der Ausgangspunkt zahlloser Witze. Aus einem solchen Anfang muss man sich erst einmal frei schreiben. Hannes Köhler gelingt dies auf bemerkenswerte Weise. Zunächst einmal schildert er seine Geschichte aus einem sehr alltäglichen Moment heraus. Inmitten einer fröhlichen, angesäuselten...
Ausprobieren am Tod - Auf der Suche nach den verlorenen Möglichkeiten von Literatur
Zuerst lässt Karl Kollmann die Mannschaft auflaufen, die so viele von uns in den letzten 50 Jahren geprägt hat: die Vertreter der kritischen, der alternativen Kunstformen, die ästhetischen Rebellen, von den Wiener Aktionisten bis zu den Zen-Beatniks. Erinnerungen werden wach an ACID, an TUNIX, an die vielfältigen Rezepte gegen die „abendländische Krankheit“, gegen die Metastasen des Intellekts und die Kultur-Nischen der mindfucker. Wir begegnen u. a. Brinkmann, Fauser, Ploog, Weissner, Wondratschek. Und...
Auflösungen am Grenzbereich - Christian Futschers Venedig-Tagebuch über das Schreiben
„Ich esse den Zwerg. Was von ihm übrig bleibt, klebe ich auf ein Blatt Papier: Mütze, Beine, das Stück Schale mit dem Gesicht.“ So endet Christian Futschers intertextueller Parforceritt durch die Welt seines Schreibens. Nur Mut, kleiner Liebling ist nach Der Pfeil im Auge Futschers zweites Venedig-Buch, ein drittes ist im Entstehen und der Autor kann wahrlich aus einem reichlichen Fundus schöpfen: der Literatur. Das Buch besteht aus einer – oft scheinbar wahllosen – Fülle von Tagebuchschnipseln, Gedanken...
Der lange Schenkel des Verlangens - zeitgenössische persische Liebesgedichte
Während die Lyrik in Deutschland über viele Epochen hinweg Zeit hatte, sich Schritt für Schritt zu entwickeln und die einzelnen Phasen sich mitunter kaum voneinander abgrenzen lassen, weil sie mehr oder weniger fließend ineinander übergingen, machte die iranische Lyrik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen beachtlichen Sprung. Jahrhundertelang war die Dichtung den klassischen Formen verschrieben, bis eine kleine Gruppe Dichter um Nima Yushidj zu Beginn der 20er Jahre begann, die Dichtung zu modernisieren...
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