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Roman
Die Macht unter den Kittelfalten der Frauen - Tirol in Hans Haids Prosa
Sie haben zu den Dörfern und den Dorfbildern gehört, zu den Rändern, zu den spannendsten Außenseitern himmlisch-katholischer Gebetsdörfer in sogenannten Heiligen Landen.
Hans Haid erzählt in seinem jüngst erschienenen Prosatext „Die Landgeherin“ die Geschichte einer aus dem Passeiertal stammenden Landgehersippe im ausgehenden 19. Jahrhundert. Widmet sich also der Thematik der Jenischen (hierzulande meist Karner, Dörcher oder Laniger) in Tirol und Südtirol, die, verarmt und in ihren Heimatdörfern unerwünscht, durch die Lande zogen und sich durch kleine Dienste, Prostitution, eine da und dort gestohlene Ziege über Wasser zu halten versuchten. Besitzlos waren sie und gesellschaftlich am äußersten Rande, abhängig vom Wetter wie von der Gunst der Bauern und der dörflichen Gewalthaber, aber auch frei in mancher Hinsicht, von manchen Zwängen. Ausgestoßene Tiroler. Echte Tiroler nach alter Herkunft, fremd und heimisch zugleich. Einer mündlichen Erzähltradition verpflichtet werden die Laniger im Text zu Trägern von Erinnerung (einem über Generationen weitergegebenen Erfahrungswissen und Geschichtenschatz), verstehen sie die Zeichen eines sich ankündigenden Wandels zu deuten, werden zu Sehern und Visionären. Dem Erzähler dienen sie als Medium harscher Gesellschaftskritik.
In zwei parallel verlaufenden Erzählsträngen entwickelt Haid die Geschichte vom Landgeher-Tatte, einem geschickten Messerschleifer und Amprellmacher, Geschichtenerzähler und Säufer, seiner Gefährtin, der Landgehermama Maria (eine Heilerin, eine Trösterin der Betrübten, eine Wissende), sowie ihrer ältesten Tochter Ana. Während der Landgehertatte und die Landgehermama durch Tirol ziehend ihr Auskommen suchen, in der Hoffnung ihren Herkunftsort zu erreichen und dort überwintern zu können, löst sich Ana, die, wo sie nur kann, Geschichten aus Kalendern, Bibeln, Wallfahrtsbüchlein aufsaugt, von Eltern und Geschwistern, vom Wunsch getragen eine Madonnenerscheinung zu erleben. Ana sucht, getrieben von der Sehnsucht nach Erlösung und einem unbändigen Willen nach Freiheit, alle ihr erreichbaren heiligen Orte und Kultstätten auf, will sich immer tiefer hineingraben in die alten Geheimnisse der Landschaft, vollzieht eine Rückwärtsbewegung von den Heiligenlegenden der Wallfahrtsorte hin zum „alten Glauben“ hoch oben in den Bergen, zur sagenumwobenen Stadt Dananä, zu den Saligen und wilden Frauen. So liest sich Anas Geschichte auch als Versuch einer Emanzipation. Die Mutter Gottes, die wilden Frauen, die Saligen erscheinen als Fluchtpunkte imaginierter Selbstentwürfe, wobei Vorstellungen vom Reinen und Unschuldigen, Wilden und Freien sehr nah beieinander liegen. Was die Geschichte Anas mit der ihrer Eltern verbindet, ist das Kreisen um die (mythologischen wie realen) Herkunftsorte, die Bewegung einer Rückkehr, eine Herbergsuche letztlich und die bittere Erfahrung des Nie-ankommen-Könnens, einer existentiellen Unbehaustheit. Trost lässt sich lediglich bei Frauen und Kindern finden. Dem Leben zugeordnet, sind sie die Hoffnungsträger des Textes. Es sind vor allem Mutterlinien, die den Fortbestand alles Wertvollen garantieren, es ist der bergende Mutterschoß, der letzte Zuflucht verspricht, es versteckt sich unter den Kittelfalten der Frauen eine geheimnisvolle und dunkle Macht.
In drastischen Bildern schließlich träumt Ana, Heilige und Hexe, von vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Katastrophen, gipfelnd in der Vision einer Apokalypse im 21. Jahrhundert. Zwischen der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert und dem Beginn eines neuen Jahrtausends wird eine Brücke geschlagen, verbindend sind Unsicherheit, Endzeitstimmung und heraufbeschworene Horrorszenarien. Haid spannt so einen erzählerischen Bogen durch die Jahrhunderte hinweg in die Gegenwart, wobei Anas Höllen- und Fegefeuerphantasien beiderlei einzuschließen scheinen, verzweifelte Warnung und gerechte Strafe. Unmissverständlich bricht mit Fortschreiten der Handlung die (Tirol-)Kritik eines vielstimmigen Erzählers durch, der, anfänglich eher noch mutmaßender und (scheinbar) unbeteiligter Chronist, sich in die wütende Klage und Anklage eines Bußpredigers hineinredet: [...] dass die berge brechen, dass die riesenbremsen alles getier auf almen und weiden in den tod treiben, dass die stauseen brechen und das unermessliche wasserfluten die täler samt allen Menschen hinwegreißen, dass die wilden gifte in alles essen und trinken geraten (gott bewahr uns), in alle herbergen und hotels und rundherum wellness und unzucht und dass die heiligen kälber geschlachtet werden allesamt [...]. Unübersehbar und vielfältig sind die aufgeworfenen Bezüge zur Gegenwart, die Kritik am Ausverkauf der Natur oder an der Scheinheiligkeit ach so heiliger Dörfer, wie sie sich etwa im Umgang mit allem Fremden offenbart. Hier liegt vielleicht auch eine Schwäche des Textes, der seine Stärken dort hat, wo erzählt wird, wo er nah an den Figuren bleibt. Das explizite Verlassen der historischen Ebene liest sich als Bruch, der immer lauter werdende Erzähler läuft Gefahr seine eigene Geschichte zu übertönen, lässt Figuren wie Lesern wenig Raum.
Haid schöpft aus dem reichen Fundus mündlicher und schriftlicher Überlieferungen, bedient sich ihrer archaischen, üppigen Bilderwelt, spinnt Aufgefundenes weiter, aktualisiert alpine Mythen. Charakteristisch für den Text ist – wie in Zaubersprüchen, die dadurch erst ihre Wirkkraft erlangen – die Geste der Wiederholung, die Wiederkehr von Konstellationen, Konflikten, Motiven. Wie im Mythos und wie in der mündlichen Überlieferung sind die Ereignisse zeitlos, wird Vergangenes gegenwärtig erfahren. Beeindruckend ist das dichte Bildergeflecht, das Haid aus Überliefertem schöpfend zu weben vermag. Berührend ist die Geschichte der (so verletzlichen) Landgeher-Sippe als eine über das gnadenlose in die Welt Geworfen-Sein alles menschlichen Lebens. Auf jeden Fall ein Text, der es wert ist, gelesen zu werden.
erschien als Originalbeitrag im brenner-archiv "Literatur in Tirol"
Hans Haid: Die Langeherin. Roman. Haymon Verlag, Innsbruck 2011.