Gegenstrophe. Blätter zur Lyrik 3

Almanach

Autoren:
Michael Braun, Kathrin Dittner Dittner
Besprechung:
Ute Eisinger
 

Almanach

Stile und Standpunkte - Lyrik und Lyrikrezeption in "Gegenstrophe"

Als „fluiden, leicht melancholischen Zustand, beruhigendes Überlassen wie präzises Zugreifen“ charakterisiert Cornelia Jentzsch die Dichtung Marion Poschmanns, zumindest den Band „Geistersehen“ (Suhrkamp 2010), aus dem sie eine Handvoll Beispiele bringt. Das ist ein sehr persönlicher Eindruck, denn das Vorhaben Poschmanns hat der Verlag als Erprobung der poetischen Mittel angekündigt: der Dichter bzw. die Dichterin als Seher/in! (Folglich wäre Poschmann gelungen, woran Hofmannsthals Lord Chandos gescheitert ist...) Weiter unten heißt es dann auch bei Jentzsch, die Gedichte in „Geistersehen“ seien eine Mischung aus „wissenschaftlichem Röntgenblick und diffusem Ahnen vom großen Grundgeheimnis Natur“. – Einerlei, was es ist, das Poschmann gelingt, ihre Texte sind lesenwert, weil von einer wie auch immer vorgenommenen Thermung beflügelt, melodische, alliterative Töne, die nicht zu viel verraten, doch eine Weile mitschweben lassen und daran erinnern, was Dichtung einmal war, bevor sie irgend etwas zu sein hatte. Danke, Marion Poschmann!

Jan Wagner, von dem zuletzt 2010 im Berlin Verlag „Australien“ erschienen ist, wird von Michael Krüger recht allgemein vorgestellt. Er ist – zumindest in seinen Gedichten – so reiselustig wie Raoul Schrott, so wenig um althergebrachte Formen verlegen wie H. C. Artmann, so tüchtig in Enjambements (und ohne Berührungsängste mit dem unerwartet Gewöhnlichen) wie R. M. Rilke. Mein Favorit: Im Sonett „Giersch“ nähert sich Wagner dem Unkraut Geißfuß (Aegopodium podagraria) bzw. dessen volkstümlichem Namen mittels Anklängen und Assoziationen: nicht ganz so spielerisch wie Oskar Pastior, aber immerhin. Wer Eugen Roth liebt und Formenlehre rekapitulieren will, wird seine helle Freude haben. Gedichte wie „Gräber“ sind Erzählungen – etwa davon, wie sich ein gefallener Großvater in Erinnerung ruft – mit souverän verdichteter Stimmung. Wer darüber hinaus allgemeine Weisheiten sucht oder darauf brennt, Mittel und Wege des Gedichts auszureizen, wird bei Jan Wagner nicht fündig werden.

Für den Abschnitt ESSAY hat Bertram Reinecke elf in den letzten Jahren heraus gekommene deutsche Gedichtanthologien untersucht, mit dem Plan, eine Zustandsbeschreibung des heute typischen Gedichts zu verfassen. Das Ergebnis des zweifelhaften Unterfangens ist recht vage, einerseits, weil die Mittel (Konkordanzen), andererseits weil die Worte („Wirgedicht“) unzureichend sind.

Ganz dem diesjährigen Gewinner des Hannoveraner Hölty-Preises 2010 für ein lyrisches Gesamtwerk, Paulus Böhmer, geb. 1936, gewidmet, ist der Abschnitt DOSSIER:
Nach einer Darstellung der Auszeichnung folgt ein Auszug aus dem Hauptwerk Böhmers, dem in drei – von insgesamt 28 Büchlein und Gedichtbänden – fortgesetzten „Kaddisch“. Es folgt die von Jan Volker Röhnert gehaltene Laudatio auf den Dichter, der weitab von Trends und Grüppchen beharrlich und weitgehend unbemerkt von Literaturtrubel seine eingängigen Litaneien dichtet. Mir fällt nur Inger Christensens „Alfabet“ ein, das gewisse Ähnlichkeit zu Böhmers Werk hat. Röhnert zieht den Vergleich mit den Schiffsverzeichnis Homers, wo alle Pracht und Herrlichkeit der Zeit des Odysseus aufgezählt ist.

Böhmers bevorzugte epische Großform ist nicht nur eine Litanei für einen Toten, sondern vielmehr ein ausufernder Katalog des Lebenswerten, den Tod mit künstlerischen Lebensbezeugungen überhäufend.
Nach der Vita Böhmers gibt es eine ausführliche Bibliografie.

Ein besonderes Service bietet der letzte Teil von Gegenstrophe, RECHERCHE: Eine Liste aller im Jahr 2010 erschienener Veröffentlichungen von Gedichten: Anthologien und sämtliche Buchtitel einzelner Lyriker, erst deutschsprachige, dann fremde, deren Übersetzung erschienen ist.

Wer sich über Standpunkte und Stile der Dichtung des Jahres 2011 ein Bild machen will, ist bei „Gegenstrophe“ richtig. Es sind zwar nur ein Dutzend DichterInnen, die darin vorgestellt werden, doch das gründlich und von versierten Kritikern.


Originalbeitrag

Michael Braun, Kathrin Dittner & Martin Rector (Hg.): Gegenstrophe. Blätter zur Lyrik 3.  Wehrhahn Verlag, Hannover 2011.

 

 


 

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