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Eine Biographie
Chronik des Chronisten – Wilfried F. Schoeller legt die erste umfassende Döblin-Biografie vor
Hamburg | 19.01.2012
Wird Alfred Döblin heute noch gelesen? „Berlin-Alexanderplatz“ darf in einer Aufzählung der großen deutschen Romane des 20. Jahrhunderts sicherlich nicht fehlen. Das Buch zählt zur Pflichtlektüre sämtlicher gymnasialer Oberstufen und germanistischer Seminare, wenngleich es vermutlich nicht wenige Schüler und Studenten gibt, die direkt zu einem der zahlreichen Erläuterungsbände greifen (und/oder sich die Verfilmung ansehen). Zu wissen, wer Franz Biberkopf ist, ist in bildungsbürgerlichen Kreisen so selbstverständlich, wie den kleinen Oskar Matzerath mit der „Blechtrommel“ in Verbindung zu bringen. Aber dennoch: Anders etwa als im Fall von Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“, das derzeit in neuer Ausgabe ein Revival in den Feuilletons und Buchhandlungen erlebt (Aufbau Verlag 2011), ist es um „Berlin-Alexanderplatz“ in den vergangenen Jahren still geworden. Weitere Werke des Vielschreibers Döblin – rund 40 Buchpublikationen gehen auf sein Konto – kennt heute kaum noch jemand dem Titel nach, von deren Inhalt ganz zu schweigen. Der Kulturjournalist Wilfried F. Schoeller hat nun die erste (!) umfassende Döblin-Biografie vorgelegt, die in akribischer Detailtreue (auf über 800 Seiten) das Leben und Werk des in Stettin geborenen und in Baden-Württemberg gestorbenen Schriftstellers nachzeichnet, der Berlin eigentlich nie verlassen wollte, und doch gezwungen war, zahlreiche Jahre seines Lebens im Exil zu verbringen.
Immer wieder kommt Schoeller dabei auf den nur drei Jahre älteren Thomas Mann zu sprechen. So sehr sich die beiden voneinander unterschieden – Döblin konnte seine Schriftsteller-Existenz nicht auf einer bequemen Leibrente aufbauen –, weisen doch die Frühwerke einige Gemeinsamkeiten auf: Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehörte dazu die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer (vermeintlichen) Gewissheiten, sowie – im Gegenzug – die Faszination, die von einer asketischen, im Grunde lebensverneinenden Existenz ausgeht. Manche Stücke aus dieser Zeit, etwa Döblins 1902/03 verfasste „Memoiren des Blasierten“ und die Thomas-Mann-Novelle „Tobias Mindernickel“ (1898), verlaufen praktisch nebeneinander her.
Anders jedoch als dem stets kritisch beäugten Rivalen aus Lübeck, dessen Arbeit, so zumindest erscheint es im Rückblick, bereits früh als Gesamtwerk konzipiert war, blieb Döblin der frühe Ruhm verwehrt. Dabei fehlte es ihm nicht an literarischem Ehrgeiz: Neben Erzählungen und Theaterstücken verfasste er bis in die 1920er Jahre hinein unzählige Feuilletons, politische Kommentare und Buchbesprechungen; vier Bände bzw. rund 1.500 Druckseiten umfassen die sogenannten „Kleinen Schriften“ Döblins. Darüber hinaus veröffentlichte der Arzt Döblin zahlreiche medizinische Fachbeiträge, und liebäugelte zumindest vorübergehend mit einer wissenschaftlichen Karriere. Aber es war nicht vor 1913 – Döblin war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt –, dass ein Verlag einen Band mit seinen Erzählungen herausbrachte.
Für einige Aufmerksamkeit, wenngleich bei geringer Auflage, sorgte drei Jahre später Döblins erster Roman, „Die drei Sprünge des Wang-Lun“, der in den Medien wohlwollend aufgenommen wurde, und dem Autor zu einer gewissen Bekanntheit verhalf, die über die literarischen Zirkel Berlins hinausreichte. Das war nicht unwichtig, half es Döblin doch dabei, seine Werke fortan gedruckt zu bekommen (was bis dahin nicht selbstverständlich war) und sich als Schriftsteller zu etablieren; bis 1933 erschienen seine Bücher im renommierte S. Fischer Verlag. Als im Herbst 1929 „Berlin-Alexanderplatz“ auf den Markt kam, für Schoeller „die Grabplatte der Aufmerksamkeit für die anderen Bücher Alfred Döblins“, war das Interesse der Medien zunächst groß. Jedoch wurde die Veröffentlichung rasch von einem anderen literarischen Großereignis in den Schatten gestellt: die Vergabe des Nobelpreises an Thomas Mann. Unzutreffend ist zudem das Gerücht, Döblin habe mit seinem Berlin-Roman ein Vermögen verdient: In den vier Jahren, die Döblin noch in Deutschland blieb, wurden nicht mehr als 45.000 Exemplare verkauft. Das war, gemessen an seinen bisherigen Verkaufserfolgen, beachtlich, verglichen jedoch mit manchen seiner Kollegen blieb die Leserschaft Döblins auch nach dem Erscheinen von „Berlin-Alexanderplatz“ überschaubar.
Wie so viele Kulturschaffende kehrte auch Döblin, der aus einer bürgerlichen jüdischen Familie stammte, im Frühjahr 1933 Deutschland den Rücken und ging ins Exil; zunächst in die Schweiz, dann nach Frankreich und schließlich in die USA, wo er sich – wie so viele seiner Kollegen – in Hollywood als Drehbuchschreiber versuchte. Obwohl ein strikter Gegner des Nationalsozialismus, hielt sich Döblin in der Frühphase des Exils mit Meinungsäußerungen über die Vorgänge in Deutschland zurück. Grund dafür war nicht, wie bei Thomas Mann, die Hoffnung, seine Bücher könnten auch weiterhin in Deutschland erscheinen, sondern vielmehr der Umstand, dass Teile seiner Familie, unter anderem drei seiner Söhne, noch in Deutschland lebten. Wie Mann distanzierte sich Döblin daher, wenngleich in seinem Fall aus familiären Gründen, von einem in der von Klaus Mann herausgegeben scharf antinazistischen Exilzeitschrift „Die Sammlung“ veröffentlichten Beitrag. Nachdem schließlich auch den Söhnen die Flucht aus Deutschland gelungen war, legte er sich bei seiner Kritik an den deutschen Zuständen keine Zurückhaltung mehr auf; in unzähligen Artikeln und Vorträgen ging Döblin, der das große Glück hatte, 1936 die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten, hart mit seinem Herkunftsland ins Gericht.
Literarisch wandte sich Döblin im Exil dem mythischen Roman zu; seine „Amazonas“-Trilogie, die 1937 fertiggestellt wurde, behandelt in bizarrer Weise die Zerstörungen, die die Europäer, getrieben vom Wahn, das Christentum zu verbreiten, an den Völkern Südamerikas verübten. Bezeichnend ist, Schoeller weist ausdrücklich darauf hin, dass sich Döblin damit wieder unmittelbar in die Nähe seines Dauerrivalen Thomas Mann begab. Dieser schrieb bereits seit Mitte der 1920er Jahre an seiner monumentalen Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“, die zwischen 1933 und 1943 – die ersten beiden Bände noch bei S. Fischer in Berlin – veröffentlicht wurde. Die gedankliche Nähe der beiden Werke, der Rekurs auf den Mythos und das Geheimnisvolle fremder Kulturen angesichts der gegenwärtigen politischen Entwicklungen, blieb, sehr zum Leidwesen Döblins, auch den Kritikern nicht verborgen; den Vergleich des „Amazonas“ mit dem „Joseph“ empfand er als derart kränkend, dass es beinahe zum Bruch mit Thomas Mann gekommen wäre. Kurze Zeit später, im Frühjahr 1939, kreuzten sich die Wege der beiden erneut: Döblin war als ordentliches Mitglied in die „Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften“ berufen worden, deren Präsident zu dieser Zeit Thomas Mann hieß.