Erich Mühsam Band 1 (1910-1911)

Tagebücher

Autor:
Hg.: Chris Hirte Conrad Piens
Besprechung:
Martin Jankowski
 

Tagebücher

Wertvolle Momentaufnahmen, demonstrative Selbstermutigung - die Tagebücher von Erich Mühsam

Insgesamt ergibt sich mit dem ersten Band der vom Verbrecher Verlag auf 15 Bücher angelegten Tagebuch-Reihe überraschender Weise keineswegs das Lebensbild eines leidenschaftlichen anarchistischen Revolutionärs (Mühsam selbst bezeichnet sich als „jüdischer Anarchist“; S. 94), sondern eher das eines nicht erwachsen werdenden Großbügersohnes, der als Charmeur und Caféhaus-Spieler vor allem auf Kosten anderer lebt (aber vom fremden Geld ganz selbstlos auch andere mitversorgt), und dabei planlos Schulden macht …  


  Die Mühsam-Tagebuchausgabe des Verbrecher Verlags ist beachtenswert ediert und in ihrer Art beispielgebend. Vor allem die Verschränkung von Print und Internet setzt Maßstäbe: Zum exzellent produzierten Buch gibt es ein (wachsendes und laufend aktualisiertes) Register nebst Info-Links im Netz, dazu den gesamten Volltext und die Faksimiles der Tagebücher für die tiefere Recherche. Erstmals nach fast einhundert Jahren erscheint so endlich die (seit den 1950er Jahren geplante) Gesamtausgabe der Tagebücher Erich Mühsams in zeitgemäßer Form, wobei einige Bände (Heft 2 bis 4 und 18 bis 21 von insgesamt 42) noch in sowjet-russischen Archiven verschollen bleiben.


  Mühsams Tagebücher von 1910/11 überliefern wertvolle  Momentaufnahmen aus der Künstlerboheme des untergehenden deutschen Kaiserreichs. Sie zeichnen das Lebensbild eines hedonistischen Lebemanns und gesellschaftlichen Außenseiters, weswegen sie als Lebensbericht nicht exemplarisch für „den deutschen Durchschnittsbürger“ von damals stehen können - aber vielleicht macht gerade das sie so interessant. Mühsams offenherzige Selbstdarstellung zeichnet das Psychogramm eines ambitionierten Freigeists, der sich demonstrativ gegen Zeitgeist und Gesellschaft stellt, indem er allein von und für seine (bewusst provokante) freiheitliche Lebenshaltung lebt. Der Mühsam dieses ersten Tagebuchbands erscheint dem Leser als Bohemian mit permanenten Geldsorgen, für den Frauen und Theater das Wichtigste sind. Obwohl bereits seit einem Jahrzehnt aktiver Autor, zeichnet er sich – nicht ohne Selbstironie - als allseits heftig um Anerkennung Ringenden, der stets in idealistischster Weise an seinen freiheitlichen Ideen festhält: Mühsam hungert lieber oder macht überall Schulden, als von seinem bohemehaft-bürgerlichen Lebensstil und seinen anarchistischen Ideen abzulassen (die im Tagebuch selbst freilich kaum dargestellt, sondern eher indirekt mit seinem Liebesleben, mit den geäußerten Schreibabsichten und in den Vortragsreisen abgebildet werden). Interessant wird sein, welche Entwicklung die nächsten Tagebuchbände verzeichen – denn auch wenn man wenig über den späteren Protagonisten der Münchner Räterepublik Erich Mühsam und weitere (sehr bewegte) Biografie weiß, die 1934 im KZ Oranienburg endet: Die Lektüre der quicklebendigen Aufzeichnungen dieser linken Legendengestalt der deutschen Geschichte lohnt in jedem Fall.

Originalbeitrag




Erich Mühsam, Tagebücher Band 1 (1910 – 1911 ) herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens, Verbrecher Verlag Berlin 2011

 

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