Erich Mühsam Band 1 (1910-1911)

Tagebücher

Autor:
Hg.: Chris Hirte Conrad Piens
Besprechung:
Martin Jankowski
 

Tagebücher

Wertvolle Momentaufnahmen, demonstrative Selbstermutigung - die Tagebücher von Erich Mühsam

28.02.2012 | Hamburg

Erich Mühsam war mir bis vor Kurzem vor allem aus der DDR-Bildungspropaganda in Erinnerung: Als parteilicher Frühsozialist und „antifaschistischer Widerstandskämpfer“ wurde er uns im Deutschunterricht ab Klassenstufe 8 ans Herz gelegt, vor allem sein Revoluzzergedicht („War einmal ein Revoluzzer…“) von dem dummen Lampenputzer, der auch mal „revoluzzen“ wollte, aber ohne dass seine geliebten Gaslaternen dabei zum Barrikadenbau verwendet würden…
Das grob-ironische Knittelversgedicht mussten wir damals als beispielgebendes Feindbild zum Erkennen falscher Sozialisten (und ihrer verachtungswürdigen „wasch mich, aber mach mich nicht nass“ Haltung) auswendig lernen, um künftig in unseren Aufsätzen all jene Kampfunwilligen entlarven zu können, die nicht begreifen, dass eine gute Sache und wahre Revolution naturgemäß nun mal das eine oder andere schmerzhafte Opfer verlangt. Auch die Mühsamsche „Psychologie der Erbtante“ (mit all ihren drastisch-heiteren Beispielen vergeblichen Hoffens auf Reichtum ohne Arbeit) wurde uns damals vom Eulenspiegel Verlag präsentiert, auf dass wir sozialistisch Eingemauerten alle Hoffnung auf die reiche Tante im Westen oder den Onkel in Amerika ein für alle mal fahren ließen… Dass der reale Erich Mühsam indes wenig mit den Margot-Honeckerschen Vorstellungen vom „wahren sozialistischen Revolutionär“ gemein hatte und selbst jahrelang ganz unironisch-dringlich darauf hoffte, dass sein Vater sterben würde, damit er endlich erben und seine ewigen Geldsorgen los würde, erfuhr ich erst dieser Tage – und zwar aus erster Hand: Dank zweier sachkundiger Herausgeber des umtriebigen Berliner Verbrecher Verlages (Mühsam hätte diese geistige Heimat mit Sicherheit sehr gefallen) werden in 15 geplanten Bänden peu a peu erstmals die Tagebücher dieses deutschen Polit-Bohemians herausgegeben, die die Sowjets in den Nachkriegswirren trickreich an sich gebracht hatten und eigentlich auf immer verschwinden lassen wollten. Nach der deutschen Wiedervereinigung kamen die Originalhefte (bis auf wenige verschollene) jedoch in den Besitz der Berliner Akademie der Künste und können jetzt erstmals überhaupt veröffentlicht werden.   

  2011 erschien der erste, sorgfältig edierte Band, der die Hefte 1,5 und 6 der Mühsamschen Tagebücher enthält und die Jahre 1910 und 1911 dokumentiert: Durchweg lebendig geschrieben, lesen sich die Aufzeichnungen flüssig und anregend selbst da, wo es gelegentlich inhaltlich mager wird, weil sich die Abläufe und Namen in Varianten wiederholen. Stilistische Eigenheiten und Schreibweisen wurden weitestgehend erhalten, um den Dokumentencharakter der Texte zu betonen. Wir erfahren alles Wichtige über den  Alltag eines künstlerischen Bohemiens, dessen Lebensmittelpunkt damals München war: Mühsam berichtet jede Menge Klatsch und Tratsch über die damals offenbar besonders umtriebige Schwabinger Boheme. Uns begegnen Künstler, Huren und Politiker (Sozialisten, Anarchisten, Theosophen) von denen uns etliche Namen aus anderen Zusammenhängen (Geschichtsbüchern und Literaturseminaren) bekannt sind. Mühsam verbringt sein Leben damals in Pensionen und Cafés (etwa der Torggelstube, dem Stefanie) und Theatern. Die Eintragungen enthalten zahllose kursorische Stück- und Schauspielerkritiken sowie Lektüreberichte, von denen einige auch heute bedeutend, vieles jedoch auch zu Recht wieder vergessen scheint. Mühsam weiß, wer gerade mit wem Sex und Spiel treibt (bevorzugt Schach und Poker) und mischt selbst kräftig mit. Uns begegnen unzählige Gespielinnen Mühsams, vom „hässlichen Zimmermädchen“ bis zur angebeteten Schauspielerin, die Mühsam unermüdlich zum „Piacere“ (d.h. Geschlechtsverkehr) zu gewinnen trachtet und die auch freigiebig mit anderen geteilt werden – selbstverständlich, denn Mühsam ist Anarchist und will in dieser Hinsicht demonstratives Vorbild sein. Gleich zu Beginn werden wir Zeugen der schwierigen Heilung einer Syphilis; wir erleben, wie der bereits hochverschuldete Mühsam 3000 auf abenteuerliche Weise in der Schweiz geborgte Reichsmark (etwa 10.000 Euro) innerhalb weniger Wochen durchbringt - ein Mann, der seine Tage in Cafés und Theatern verbringt und, was geregeltes Einkommen angeht, vor allem darauf hofft, dass sein Vater stirbt, damit sein „ewiger Dalles“ (Geldnot) dank des zu erwartenden Erbes endlich vorbei sein möge. Mühsam ringt mit seiner ihn unterhaltenden bürgerlichen Familie, die er für deren an ihm gewährte Zuschüsse gebundenen Auflagen aufrichtig hasst und sie in seinen Tagebüchern zutiefst „schriftlich“ verachtet (während er real eine recht brave Miene zu diesem Spiel zu machen scheint).


  Mühsams Politik und Literatur kommen im Tagebuch nur am Rande vor, das hier eher als Arbeitsbericht bzw. grobes chronologisches Verzeichnis von Entwicklungen und Geschehnissen dient. Um ein aussagefähiges Gesamtbild zu erhalten, müsste man seine Reden und Gedichte, seine Briefe, Aufsätze und Zeitschriftenbeiträge aus jener Zeit als Parallellektüre hinzuziehen. Am interessantesten jedoch sind die ausführlich geschilderten Begegnungen mit Freunden und Kollegen, etwa mit Johannes Noll, Heinrich Mann, Frank Wedekind oder Lion Feuchtwanger. Wir werden Zeugen von Mühsams Versuchen als Autor, Kabarettist, Redner und Verleger (Zeitschrift „Kain“); wir begegnen einer hyperaktiven Else-Lasker-Schüler als „eifersüchtige Megäre“ (S. 104) und nehmen Anteil an der wegweisenden Freundschaft Mühsams mit Gustav Landauer, an dessen einflussreicher Zeitschrift „Sozialist“ er damals mitarbeitet. Dieser erste Tagebuchband enthält viel demonstrative Selbstermutigung, Selbstvergewisserung und Selbststilisierung -  eindeutig an die Nachwelt gerichtet, wie ein Eintrag vom 3. Oktober 1910 beweist, wo es heißt: „Die Rücksicht darauf, dass die Notizen einmal publiziert werden könnten, darf nichts entscheiden. Steht schon so manches in diesem Heft, was die Veröffentlichung in den nächsten Jahrzehnten sowieso ausschließt…“ (S.94) Mühsam selbst rechnete also nicht mit Drucklegung zu seinen Lebzeiten, schrieb aber, wie das Tagebuch selbstbewusst belegt, für kommende Generationen. Insofern wird seine Hoffnung nunmehr erfüllt.


 

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