Tagebücher

Der Krieg etabliert sich. Erich Mühsams »Tagebücher Band 4 (1915)«

26.08.2013 | Hamburg

Im Verbrecherverlag ist der vierte Band der Tagebücher Erich Mühsams erschienen. Er beinhaltet die Aufzeichnungen des Jahres 1915. Der erste Weltkrieg hat inzwischen seine anfängliche Dynamik verloren, und die Heere beginnen sich einzugraben und den schier endlosen Grabenkrieg mit seinen Ungeheuerlichkeiten aus Schrapnell und Kampfgas vorzubereiten. Die bis dato opferreichste Schlacht ist im Gange. Freundschaften sind an nationaler Engstirnigkeit zerbrochen, Vorkriegsutopien zerbröselt.

Die deutsche Gesellschaft hat sich zu einer Kriegsgesellschaft vereint, und jeder, der nicht seine patriotische Jacke übergeworfen hat, wird von den anderen misstrauisch beäugt. Die Geheimpolizei arbeitet auf Hochtouren. Mühsams Briefe werden geöffnet oder zurückgehalten, der Kontakt zu Freunden ist erschwert. Viele befinden sich im Feld oder im Exil.

Wie vor dem Krieg wird Mühsam weiterhin von Geldsorgen geplagt. Sein Vater hält ihn kurz und will einfach nicht sterben. Ein zäher alter Herr, der sich von einer Krankheit, in die Mühsam seine ganzen monetären Hoffnungen gelegt hatte, stetig erholt. Hier wird der zynische Subtext bürgerlicher Familienmodelle deutlich. Die Erbschaft als Verheißung und Mittel zur Disziplinierung. Als letzteres versagt sie bei Mühsam natürlich, was ihren Zynismus im Wunsch nach Vatersterben besonders krassen Ausdruck verleiht.

So ist die Ausgangslage des neuen Bandes, die Ausgangslage eines sich verwüstenden Europas um 1915.

Zwei Dinge werden mir bei der Lektüre bis hierhin vor allem klar: Ich bin kein Freund ewig langer Lektüren, also müsste mich der Umfang dieser Tagebuchausgabe eher abschrecken. Das macht er aber nicht: denn vor mir entfaltet sich in exzellenter Sprache ein Panorama, das Geschichte offenlegt.

Ein Text erzeugt einen Spannungsbogen, obwohl mir der Ausgang der Handlung bekannt ist wie jedem. Und deshalb kann ich an jeder Stelle in das Buch einsteigen. Es ist darin überall literarischer Mehrwert zu finden, in Formulierungen, seismografischer Gesellschaftsstudie, Gedichtfragmenten.

Und zweitens ist es so, dass meine Bewunderung für den Autor entpersönlicht wird, sich als Bewunderung des Sprachwerks, der Sprache selbst erweist. Denn so nah mir Mühsams Positionen zuweilen auch sind, so fremd werden sie mir in jenen Momenten, in denen mich seine Erotomanie einfach nervt oder mir bestimmte Erwägungen unausgegoren und wirr erscheinen. In solchen Momenten löst sich Mühsams Person von der Sprache in den Tagebüchern, und mir wird ihre Literarizität plötzlich als Wert augenscheinlich. Ich kann die Sprache feiern, ohne den Sprecher zu vergöttern.

Im Band befindet sich folgendes Zitat, das ich politisch für äußerst bedenklich halte, das ich aber verstehe, weil ich vor zwanzig Jahren ähnlich gedacht habe.Terrorismus machte einen gewissen Eindruck auf mich, und ich sah im Leben des Terroristen einen gewissen Heldenmut.

Vorgestern Nacht haben Zeppeline befestigte Orte der englischen Ostküste »erfolgreich mit Bomben beworfen«, und sind unversehrt davongekommen. Offenbar sind viele friedliche Bürger, auch Frauen und Kinder dabei umgekommen. Aber der Jubel ist groß. Man wird sich diese Glücksstimmungen merken müssen, für den Fall, daß mal wieder ein Repräsentant der kriegerischen Menschheit von einem Anarchisten hingerichtet wird. Denn dann wird wieder alle Welt vor Erbarmen nicht wissen, wohin. Das ist ebenso sicher wie die Begeisterung der Deutschen, wenn übers Jahr nach Friedenschluß der Zar oder der Engländer zu Besuch nach Berlin kommt.

Einerseits ist natürlich Mühsams Ärger und Wut angesichts der Kriegsberichterstattung verständlich, aber das Abwägen des einen Mordes gegen einen anderen, den er in Herrschafts- und Terroristenmanier als Hinrichtung bezeichnet, ist mir eher fremd, mittlerweile.

Ich verfolge diese Tagebücher wie einen Roman, nein, nicht wie einen Roman, sondern mit wesentlich stärkerer Anteilnahme, weil ich um die Realität, den Hintergrund weiß, vor dem alle germanistischen Vorurteile in mir verstummen.



Erich Mühsam: Tagebücher - Band 4 / 1915
Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens Leinen mit Lesebändchen, 480 Seiten, 28 €, ISBN: 9783940426802,  Verbrecherverlag Berlin 2013

Jan Kuhlbrodt hat zuletzt über »Warum ich meine Schuhe liebe« von Meret Oppenheim auf Fixpoetry geschrieben.


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