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Vorlesungen über russische Literatur
Von den Füßen auf den Kopf und wieder zurück.
11.09.2013 | Hamburg
Ich habe einen dauerhaften Groll gegen Leute, die ihre Literatur gern erzieherisch oder erbaulich, patriotisch oder so gesund wie Ahornsirup hätten. V. Nabokov
Ich habe den Roman Lolita nicht besonders gemocht, vielleicht habe ich dieses Buch viel zu früh gelesen. Ich mochte es nicht, aus vielerlei Gründen, vor allem mit dem Psychologismus des Buches konnte ich wenig anfangen. Die abgebrochene Lektüre ließ mich lange Zeit einen Bogen um dessen Autor machen. Zwar nickte ich, wenn irgendwann (und das kam nicht selten vor) sein Name fiel, wusste im Grunde aber nicht, warum.
Das vorliegende Buch ist in kurzer Zeit zu einem meiner Lieblingsbücher geworden. Es mag daran liegen, dass es zur Basis andere Texte hat, die ich fast alle in meiner späten Jugend gelesen habe, und zu denen ich aus einer gewissen Fehlinterpretation heraus griff. Dass sie mich unterhielten und überzeugten, lag sicher nicht an dem Grund, den ich dem Ganzen in ideologischer Verblendung unterschob und den die Vorworte der DDR-Ausgaben nicht müde wurden zu betonen. Ich sah in den Werken der russischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts eine vorbereitende Geistesbewegung, die zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution führen sollte. Kurz: ich ging meinen Lehrern sehr auf den Leim. Aber vielleicht auch nur halb, so wie sie die verhandelten Texte maximal auch nur halb verstanden hatten.
Wenn mir also etwas hilft, mein inzwischen zerfallenes Literaturverständnis vom Kopf auf die Füße zu stellen (wie Marx laut Lenin mit dem Geschichtsverständnis Hegels verfuhr), dann die Vorlesungen dieses doppelten Emigranten, angefertigt zumeist und gehalten um die Mitte des letzten Jahrhunderts herum.
Als Siebzehnter Band im Rahmen einer Gesamtausgabe der Werke Vladimir Nabokovs sind im Rowohlt Verlag also die Vorlesungen über russische Literatur erschienen. Herausgegeben wurden sie von Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Letzterer hat die Texte auch ins Deutsche übertragen. Fredson Bowers, der 1991 starb, hatte 1981 das Original besorgt: Lectures on Russian Literature, das unter dem Titel Die Kunst des Lesens – Meisterwerke der russischen Literatur 1984 bereits auf Deutsch erschienen ist, für diese Ausgabe aber vollkommen neu übersetzt und erweitert wurde. Ich finde Zimmers Neuübersetzung hervorragend (wie die meisten Neuübersetzungen von Klassikern anderer Sprachräume in den letzten Jahren. Wahrscheinlich sind sie von Zeit zu Zeit einfach nötig, weil Übersetzungen im Gegensatz zu ihren Vorlagen veralten).
Wir bewegen uns mit dem Buch also, und das macht einen beträchtlichen Reiz der Lektüre aus, durch drei Sprachen und Kulturen. Russisch, Amerikanisch und Deutsch. Die Texte gehen einen Weg, wenn auch leicht abgewandelt, den der Autor in verschiedenen Fluchtbewegungen auch gegangen ist.
Nabokov ist 1899 in Sankt Petersburg geboren und floh mit seiner Familie 1919 aus dem damals kriegskommunistisch konstituierten Russland nach Westeuropa, lebte bis 1937 in Berlin, bevor er also von dort aus wiederum fliehen musste, diesmal vor den Nazis. Der Weg geht über Südfrankreich in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er 1940 ankommt und bis zu seinem Tod 1977 lebt. Diese biografischen Angaben mögen zunächst hinsichtlich des Textes, der mit diesem Buch vorliegt, unwichtig erscheinen, weil er sich mit der Literatur des 19. Jahrhunderts befasst, sie liefern aber einen historischen Hintergrund, vor dem die Lektüre des Buches an Spannung und Kontrast gewinnt.
Spannend ist es nämlich zum Beispiel, wenn er sich über das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, vor allem aber von Literatur und Politik auslässt. Man sollte annehmen, dass ein Autor mit dieser Geschichte, mit diesem Verfolgungshintergrund die politischen Verhältnisse selbst zum Gegenstand seiner Betrachtungen macht, aber das überließ er Autoren wie Babel und Bulgakow, die nicht geflohen, die in Russland geblieben waren. Und auch rückwirkend, in Bezug auf Gogol zum Beispiel, erklärt er dessen Engagement zum Wahrnehmungsfehler der Rezipienten und der Kritik. Drastisch zum Beispiel diese Formulierung am Anfang der Vorlesung über Gogol:
1833 war Puschkins Genie in einer Hochphase, aber die russische Renaissance der Dichtkunst war vorüber, und eine Schar von Stümpern war in die Hinterhöfe der Literatur eingedrungen, während plattes Denken, der sogenannte deutsche „Idealismus“ und die ersten Symptome sozialrevolutionärer Literaturkritik, die schließlich zum Stumpfsinn des Marxismus führen sollte, einmütig den großen Dichter seiner Zeit als staubiges Relikt einer vergangenen Generation oder als Repräsentanten der literarischen „Aristokratie“ ansahen.
Im Anschluss interpretiert er Gogols Theaterstück Der Revisor, das sowohl die bürgerliche als auch die marxistische Kritik gern und oft als Satire betrachteten, in einer vollkommen anderen Richtung.
Und zwar sieht er im Zentrum von Gogols Stück, aber auch in seinem Roman und den Erzählungen das Vordringen einer Sekundärwelt: Nicht allein Lebewesen schwirren in diesem irrationalen Hintergrund herum, sondern nicht wenige Gegenstände spielen eine ebenso wichtige Rolle wie die Figuren.
Man findet im Buch die üblichen Verdächtigen versammelt, die Größen also der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts von Puschkin über Gogol, Dostojewski bis Gorki besungen, kritisiert und besprochen. Denn dass der Vortragende selbst Schriftsteller ist und somit seinen Blick, kunstvoll und subjektiv, in den Reden objektiviert, macht den Reiz dieser Veranstaltung aus. Es entsteht nämlich keinesfalls so etwas wie Sekundärliteratur, sondern aus der Rezeption der anderen Werke so etwas wie ein neuer Primärtext, aufregend und spannend.
Die These zum Beispiel, das Dostojewskis Die Brüder Karamasov mit der Romanform spielt, um den Leser auf verschiedene Weise zu ködern. Nur im sechsten Buch des ersten Teils, im Übrigen des Schwächsten des ganzen Romans, stimmen die Titel der Kapitel mit ihren Inhalten überein. Mir fiele, ehrlich gesagt kaum eine stärkere Einladung zum Lesen eines Romans ein.
Für mich am Schönsten und Anregendsten, auch in der Hinsicht auf sein Scheitern am Roman (was ja in diesem Fall alles andere als ein Scheitern war), ist die Vorlesung über Tschechov. Vielleicht deshalb, weil ich seine Texte unglaublich gern gelesen habe und weil der Kirschgarten zu meinen allerliebsten Theaterstücken gehört. Nabokovs Vorlesung über Tschechow bringt vielleicht nichts revolutionär Neues über den Dichter zu Tage, aber sie ist mit einer Leidenschaft formuliert, dass man sich ihr kaum entziehen kann. Aber warum sollte man das auch tun?
Ich empfehle dringend, schreibt Nabokov, Tschechows Werke (selbst in den Übersetzungen, die sie zu ertragen hatten) so oft wie möglich zur Hand zu nehmen und sich durch sie hindurchzuträumen, wie man sich durch sie hindurchträumen soll. In einer Zeit der rohen Goliaths ist es durchaus nützlich etwas über zarte Davids zu lesen.
Gut verzichten könnte ich auf die eher launigen Texte am Ende des Bandes über das Philistertum und über das Übersetzen. Sie bringen nichts Neues, machen mir aber auch nicht wirklich Spaß.
Im Gegensatz dazu wollte ich nie auf Fredson Bowers Einleitung zur amerikanischen Ausgabe, die dem Text angehängt ist, und auf Zimmers Nachwort verzichten, in denen ich einiges Interessante zur Entstehungsgeschichte und den Bedingungen erfahren habe.
Darüber hinaus aber ist dieses Buch ein einzigartiges Lesevergnügen, und ich bekomme Lust, die Texte, auf die es sich bezieht und die inzwischen zu großen Teilen ebenfalls in Neuübersetzungen vorliegen, erneut zu lesen und unter bestimmten Gesichtspunkten eben zum ersten Mal.
Vladimir Nabokov Werke 17. Vorlesungen über russische Literatur. Herausgegeben von Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer. ISBN 978-3-498-04655-2, € 38,00 Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 2013
Jan Kuhlbrodt hat zuletzt über Erich Mühsam Tagebücher, Band 4 1915 auf Fixpoetry geschrieben,
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