Als Gruß zu lesen//Russische Lyrik von 2000-1800

Anthologie

Autor:
Hrsg: Felix Philipp Ingold
Besprechung:
Daniel Henseler
 

Anthologie

Poetische Grüße aus zwei Jahrhunderten. Eine etwas andere Anthologie russischer Lyrik.

Positiv zu vermerken ist auch der Umstand, dass in Ingolds Sammlung die Frauen stärker als in anderen Anthologien in ihr Recht gesetzt werden. Neben den großen Namen wie Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa oder auch Bella Achmadulina, die wohl in jeder Anthologie einen Auftritt erhalten, unterschlägt Ingold auch solche bemerkenswerten Dichterinnen wie Sofija Parnok, Karolina Pawlowa oder Marija Petrowych nicht, die im deutschsprachigen Raum allenfalls Kennern ein Begriff sein dürften. Ärgerlich ist allerdings, dass Ingold in seinen Erläuterungen zu den Dichterinnen hin und wieder den bestimmten Artikel verwendet und dann etwa von „der Pawlowa“ die Rede ist. Man kann gegenüber sprachlicher Gleichbehandlung durchaus kritisch eingestellt sein – aber derartige Formen, die etwas Bevormundendes an sich haben, möchte man doch lieber der Vergangenheit überantwortet sehen. Lobend erwähnt werden darf hingegen wiederum, dass Ingold auch die homosexuellen Traditionen in der russischen Lyrik nicht unter den Tisch kehrt und entsprechende Gedichtbeispiele etwa von Walerij Pereleschin (1913-1992) oder Poliksena Solowjowa (1867-1924) in seine Anthologie aufnimmt. Hier trägt Ingold tatsächlich zu einer Erweiterung des Horizonts bei. Auch Gedichte, die bewusst mit graphischen Elementen operieren, hat Ingold in seinem Band berücksichtigt.

An Ingolds Übertragungen ins Deutsche kann man die Mannigfaltigkeit der Lösungen bestaunen, die große Phantasie, die der Lyriker Ingold an den Tag legt, wenn es gilt, im Deutschen eine passende Formulierung zu finden. Dabei hat Ingold bewundernswerte sprachliche Einfälle. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Semjon Kirsanow verwendet in seinem Gedicht „Rabota v sadu“ (Gartenarbeit) in der Schlusszeile den Ausdruck „sčastlivovoe derevo“, wobei das erste Wort ein Neologismus ist: Es ist dies eine Kontraktion zweier Adjektive, „sčastlivoe“ (glücklich) bzw. „slivovoe“  (Pflaumen-; wie etwa in „slivovoe derevo“, Pflaumenbaum). Wie aber gibt man diese Wendung im Deutschen adäquat wieder? – Ingold hat sich dafür das wunderbare Wort „Triumpflaumenbaum“ ausgedacht. In seinen Kommentaren zu manchem Gedicht wird überdies deutlich, wie intensiv Ingold seine Arbeit als Übersetzer reflektiert und dabei den Leser an seinen Überlegungen teilhaben lässt, worin er seine jeweiligen Entscheidungen diskutiert und verteidigt.

Mehrere Dutzend Druckfehler in den russischen Originalgedichten schmälern leider das Lesevergnügen. Meist haben sich falsche kyrillische Buchstaben eingeschlichen (etwa S. 80, erste Zeile; S. 204, mehrere Zeilen; S. 202 in der Widmung, usw.), hie und da fehlen einzelne Buchstaben, und manchmal finden sich unvermittelt lateinische Buchstaben (S. 68, siebte Zeile) zwischen den russischen Lettern. Letzteres ist umso fataler auf dem Hintergrund dessen, dass Ingold auch ein experimentelles Gedicht von Boshidar (eigentlich Bogdan Gordejew) in seine Sammlung aufgenommen hat, worin der Autor ganz bewusst kyrillische und lateinische Buchstaben mischt.

Man kann in dieser Anthologie manches interessante russische Gedicht entdecken, man kann Felix Philipp Ingolds deutsche Übertragungen bewundern und aus seinen Kommentaren und Ausführungen viel lernen. Die Sammlung ist eine schöne Ergänzung zu den bisherigen Anthologien und wird wohl vor allem solche Leser ansprechen, die mit russischer Lyrik bereits gut vertraut sind oder aber sich speziell für Fragen des Übersetzens interessieren. Will man jedoch Studierenden der Literatur eine Empfehlung abgeben, um ihnen den Einstieg in die russische Lyrik zu ermöglichen, so wird man wohl doch auf Kay Borowsky/Ludolf Müller („Russische Lyrik: Von den Anfängen bis zur Gegenwart“, Reclam) oder allenfalls auf den etwas älteren Band von Efim Etkind („Russische Lyrik aus drei Jahrhunderten“, Piper) zurückgreifen. Das hat freilich mit den Voraussetzungen zu tun: Studierenden müssen in vorzugsweise diejenigen Texte vermittelt werden, die gerade dadurch exemplarisch und repräsentativ sind, dass sie in der Tat ihre Wirkung in möglichst breiten Kreisen entfaltet haben: Es sind dann eben doch solche „Meisterwerke“, die bis heute in verschiedenen Kontexten und Situationen zugleich lebendig sind, in den Schulen, in den Medien, und nicht zuletzt auch in den Köpfen der Menschen selbst.


Exklusivbeitrag

Felix Philipp Ingold (Hrsg.): „Als Gruß zu lesen“. Russische Lyrik von 2000 bis 1800. Russisch-Deutsch. Zürich: Dörlemann Verlag AG 2012. 532 Seiten, 33,00 Euro. ISBN: 978-3908777656.

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