Gabe gegen Gabe. Felix Philipp Ingolds Lyrik der Moderne

Essay

Autor:
Wolfram Malte Fues
 

Essay

Gabe gegen Gabe. Felix Philipp Ingolds Lyrik der Moderne

Wo und wie arbeitet ein Lyriker? Einem berühmt berüchtigten Gedicht zufolge geht er, so fernab wie möglich von aller Zivilisation, in Feld und Wald vor sich hin, streng darauf achtend, dass er nichts sucht, damit ihn das, was er nicht sucht, finden und bei der Schreibhand nehmen kann. Wo und wie arbeitet der Lyriker Felix Philipp Ingold? „Der öffentliche Raum ist der Resonanzraum, aus dem ich die ersten noch unverbundenen Daten für mein Schreiben gewinne. Die Verbindung und Entfaltung von alltäglichen Klangereignissen zu einem Text, in dem Wörter und Laute enggeführt und immer wieder neu zum Sprechen gebracht  werden, ist das, was ich unter Dichtung verstehe und als Dichtung praktiziere.“(1) Stellen Sie sich vor, Sie gingen durch eine Bahnhofshalle und eine Ladenstrasse über einen Marktplatz auf einen Verkehrsknotenpunkt zu. Stellen Sie sich weiter vor, Ihr Bewusstsein verlöre auf diesem Weg die Fähigkeit, Wahrnehmung von Lauten und Wörtern nach seinen Bedürfnissen zu sortieren und anzuordnen, zu staffeln und auszublenden. Demnach ineins und uneins: Lautsprecherdurchsagen, Zeitungsausrufe, Stimmengewirr. Ihre Kopfhörer. Ihr Handy. Vor Ihren Augen die noch stummen, aber auf ihr Lautwerden drängenden Wörter der Minuten-, Tages- und Wochen-Zeitungen, der Schaufenster-Auslagen und Projektionswände, vor Ihrem inneren Auge das Internet mit seinem Link-Universum, das jederzeit auf Sie wartet. In diesem Resonanzraum einander wieder- und überholender, durchdringender und zersetzender, steigernder und zerstreuender Laute und Wörter, Sätze und Texte leben wir heute. Als die Warenwelt noch jung war, bot sie sich als Erfüllung unserer Wünsche und Träume nur an und wartete auf unsere bejahende oder verneinende Antwort. Heute antwortet sie selber mit einer Zungenfertigkeit, die niemanden außer ihr zu Wort kommen lassen will und unsere Entscheidungen schon weiß, bevor wir auch nur an sie gedacht haben. „Dem Begehren des anderen entsprechen, sein Verlangen wie ein Spiegel abbilden, es sogar antizipieren: man kann sich kaum vorstellen, welche enttäuschende, vernichtende, verlockende und irreführende Kraft [...] in dieser plötzlichen Verführung enthalten ist.“(2) Wir verfallen ihr nur deshalb nicht völlig, weil wir uns längst angewöhnt haben, das, was da von allen Seiten und aus allen Seiten auf uns eindringt,  in vorbewusster, reflexhafter Abwehr und Absonderung zu durchqueren, „gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend“(3). Was hat ein Lyriker in dieser Welt zu suchen? Was hofft er da zu finden?  Er, der Hegel zufolge in der heranwachsenden Warenwelt „die ganze äußere Umgebung zum symbolischen Ausdruck des Innern zu benutzen weiß“ und dabei „tiefe objektive Gedanken nicht scheut“(4)? In einer Welt, die Außen und Innen alltäglich gegeneinander tauscht, die an die Stelle der Tiefe die Aktualität und an die des Objekts das Arrangement setzt?

 

Gemäss Ingold hofft er auf die in eben diesem Alltag Täuschung mit Enttäuschung ausgleichende, bejahende, verlockende Kraft der sich von ihrer festen Bedeutung los machenden Wörter:  „Im Gedicht hat ein Wort dann seine höchste Richtigkeit, wenn möglichst viele seiner Bedeutungen  - und gerade die am weitesten auseinanderliegenden – gleichzeitig  [kursiv im Orig., Vf.] zum Tragen kommen; wenn sie als

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