Gabe gegen Gabe. Felix Philipp Ingolds Lyrik der Moderne

Essay

Autor:
Wolfram Malte Fues
 

Essay

Gabe gegen Gabe. Felix Philipp Ingolds Lyrik der Moderne

Sinnbildungselemente eingesetzt werden, die kraft ihrer Assoziationsfähigkeit weiter reichen als diese oder jene vom Wörterbuch [...] bereitgehaltne Einzelbedeutung.“(5) Die Welt, in deren öffentlichem Raum wir heute leben, mag ja mehr und mehr aus den Fugen, insbesondere aus den Wort- und Satzfugen gehen. Ihre sinnbildende Kraft aber lebt in diesen Fugen fort, am Treffpunkt aller wirklich möglichen Verbindungen und Vermittlungen, die in jener Welt ausgelegt sind und auf die sie der Lyriker zu besinnen vermag, indem er sich auf ihre Auslagen besinnt. Das Wort, so Ingold, hat im Gedicht dann seine Richtigkeit, wenn diejenige Bedeutung, die es an seiner Stelle hat, mit denjenigen Bedeutungen, die es von da aus an sich ziehen kann, zur Einheit verdichtet ist. „Es gibt keine Synonyma“, warnt Lichtenberg.(6) Aber eben deswegen gibt es eine Synergie zwischen den Wörtern, die ihren alltäglichen Gebrauch bestätigt wie übertrifft.

 

So weit die Theorie. Aber bewährt sich das auch in der Praxis? An einem Ingold-Gedicht?  „Das Zittern der Espe beim Gemaltwerden / macht den Schein aus und in spe / das Warten voll. Das Bild verschwindet /während es entsteht. Vollendet sich / die Täuschung oder wird mal so / mal anders Tausch.“ Titel: „Idyll“.(7) Der passt auf den ersten Blick, auf den zweiten aber schon nicht mehr. Verwirrend. Vielleicht hilft die Wort-Bedeutung weiter. „Eidullion ist eine Diminutivbildung zu griechisch eidos (äußere Erscheinung, Gestalt, Form), das zu idein ?(sehen, erblicken) in etymologischer Verbindung steht.“(8) ‚Idylle’ und  ‚Idee’ wachsen am gleichen Wortstamm.  Idylle bedeutet also eigentlich ‚Bildchen’. Schauen wir uns das Bildchen auf seine Gestalt, auf seine Form hin an. Espen zittern nicht beim Gemaltwerden. Im Gegenteil: Sie hören, ins Bild gesetzt, zu zittern auf und halten still. Den aber, der sie malt, oder den, der das werdende Bild betrachtet,  erinnern die Blätter unablässig an ihre im Sprachgebrauch unerlässliche  Bewegung. Espenlaub zittert im Sprichwort, das, als erstarrte Wendung, sich wieder und wieder holend, andere  Wendungen aufliest und an sich zieht. So entstehen Anschein wie Erscheinung zusammenwachsender  Bedeutungen, die Sinn machen, weil sie mehr ergeben als die Summe ihrer Teile. Auf die Erfüllung dieser Idee lässt das werdende Bild hoffen. Aber so spricht die Welt nicht, in der wir leben. „Das Bild verschwindet / während es entsteht“, in den vielfältigen Bild-Bedeutungen und Bedeutungs-Bildern, die im öffentlichen Resonanzraum laut werden und ihn füllen,  „wird mal so / mal anders Tausch“. Enttäuschend. Was bleibt? Bleibt etwas?  Die Antwort, die Gegengabe, folgt erst beinahe 500 Seiten später. Dazwischen schiebt sich eine Vielzahl anderer Texte „aus kritischen, poetischen und privaten Feldern“, eine Vielzahl, die das Zittern der Espe so vermannigfaltigt, dass es in seiner eigentümlichen Metaphorik untergeht. Nun taucht es wieder auf: „Das Zittern der Espe beim Gemaltwerden / macht den Schein aus und in spe / das Warten voll. Das Bild – seht! seht! - verschwindet / während es entsteht. Vollendet sich / die Täuschung oder [bricht ab].“ Titel diesmal: „Oder.“(9) Was soll da gesehen werden? Die Einheit von Verschwinden und Entstehen? Müssen wir das Entstehen des Reims wegen wichtiger nehmen? Wer ist gemeint mit dem Imperativ? Wir? Die Lesenden? Weshalb? Und was bricht da ab? Wovon? Wohin?

 

Wenn ich recht sehe, liegen in diesem eigentümlichen Widerspiel von Gabe und Gegengabe Originalität und Aktualität von Ingolds Lyrik. Versuchen wir, dem Spiel auf die Spur zu kommen und seine Regel zu begreifen.