Gabe gegen Gabe. Felix Philipp Ingolds Lyrik der Moderne

Essay

Autor:
Wolfram Malte Fues
 

Essay

Gabe gegen Gabe. Felix Philipp Ingolds Lyrik der Moderne

„JE est un autre“ lautet der Kernsatz der „Lettre d’un Voyant“, die Arthur Rimbaud im Mai 1871 an seinen Lehrer Georges Izambard richtet.(10) Der Beifall, der diesen Satz nun seit gut hundert Jahren begleitet, übertönt bis heute immer wieder, dass dieser Satz nach einer Ergänzung verlangt. JE est un autre – que qui? Que MOI. Rimbaud spielt hier die beiden Bedeutungen gegeneinander aus, die das Konzept des Ichs seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in der europäischen Moderne annimmt. JE meint Ich als reines Pro-Nomen, als allseits verfügbares Subjekt der Sätze, die den Resonanzraum gegenwärtiger Öffentlichkeit schaffen, als jemanden, der jeden Namen anzunehmen vermag, den die ihn auf dem Weg durch den Bahnhof und die Ladenstrasse über den Marktplatz zum Verkehrsknotenpunkt ansprechenden Reden und Texte ihm geben.(11) MOI hingegen holt aus all diesen Pro-Nomina seinen eigenen Namen zurück, indem es über die Sätze entscheidet, zu deren Subjekt es ihn macht. So weiß es das gesamte Äußere  des öffentlichen Resonanzraums zum symbolischen Ausdruck, zur Sinngestalt seines Innern, seines Selbsts, auszuwerten und anzuordnen. Dem Französischen fehlt ein dritter Begriff für die Einheit dieser Unterscheidung, während das Deutsche auf dieser Einheit beharrt, aber nun seinerseits für ihren Unterschied keine Worte hat. „Kein Ich ist für das Wort Ich / groß genug. Wie kein Gesicht fürs Licht.“(12)

 

Dieses von Rimbaud in die Geschichte der modernen Lyrik eingeführte Spiel zwischen JE und MOI eröffnet meines Erachtens auch den Resonanzraum, in und mit dem Ingolds Lyrik arbeitet, den Ort, an dem sie alltägliche Klangereignisse  zu einem Text verbindet, „in dem Wörter und Laute enggeführt und immer wieder neu zum Sprechen gebracht werden“. Wie? Von wem? Und schließlich: für wen?

 

JE malt als lyrisches Subjekt das Zittern der Espe, lässt es im Bild still und in den Erinnerungen, Assoziationen, Stichwörtern, die das Bild hervorruft, wieder laut werden. JE malt mit Lauten und Wörtern, die Sätze spenden, Sätze in spe für den Anschein des scheinbaren Gleichgewichts, der immer vorläufigen Ordnung zwischen den sich vervielfältigenden Bildchen, in die sein Bild beim Malen zerfällt. „Das Bild – seht! seht! – verschwindet /  während es entsteht.“ Wer ist hier aufgefordert? Wer gemeint? Ich meine: Wir, die Leserinnen und Leser. Seht zu, wie in den Sätzen des Gedichts Wörter und Laute dadurch neu zum Sprechen gebracht werden,  dass  „möglichst viele Bedeutungen gleichzeitig zum Tragen kommen“(13). Seht, wie sein Gegenstand durch das ständige Um- und Neuschreiben seiner Erscheinung verschwindet, während er entsteht, seht in seinem Spiegel euer eigenes Ich, dem jeden Tag bewusstlos widerfährt, was das Gedicht in seinen Augenblick zusammenfasst, um es sichtbar, lesbar, gegenwärtig zu machen. Ich ist im Sprachraum unserer Öffentlichkeit bei jedem Schritt, den es durch ihn tut, ein anderes, und bleibt nur bei sich, indem es sich verneinend, verweigernd, ausfällend gegen ihn abschottet. Et MOI? MOI verschwindet in, aber nicht aus den so vorgehenden Gedichten. Es geht unter, aber nicht verloren. „Vollendet sich / die Täuschung oder [bricht ab]“.  Vollendet sich die gegenseitige Täuschung einander verführender Resonanz-Sätze und ihrer Pro-Nomina, löst sich das MOI endgültig im JE auf, o d e r  wird die sich selbst beschleunigende Bewegung, in der es als Bildchen-Folge pulsiert, durch aus ihr hervorgehende und ihr widerstehende Sinnsetzung und Bildgebung angehalten? In diesem „Oder“ liegt die Sollbruchstelle von Ingolds Gedichten. Die Gegenbewegung, in die sie abbrechen,  ist Sache des Lesens und Verstehens. Das Gedicht erweist sie als möglich, führt an sie heran, aber vollzieht sie nicht für seine Leserinnen und Leser. Ob sie sich von den Resonanzen und Redundanzen des öffentlichen Sprach-Raums weiter und weiter täuschen lassen, oder ob sie die Täuschung zu enttäuschen trachten, bleibt ihnen überlassen. „Diesem Leser, jener Leserin, kommt es nicht [...] darauf an [...], das Gelesene als Verstandenes zu haben, vielmehr darauf, lesend etwas damit anzufangen, ihm einen Sinn zu geben, der über jede (immer bloß nachvollziehbare) Bedeutung hinausreicht.“(14)