Gedichte
Meilenstein moderner Lyrik. Zum 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung von "Morgue und andere Gedichte"
29.06.2012 | Hamburg
Zum 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung von Morgue und andere Gedichte im März 2012 hat Klett-Cotta eine Jubiläumsausgabe mit den expressionistischen Gedichten Gottfried Benns vorgelegt, deren Typographie und Format der Erstausgabe als Lyrisches Flugblatt nachempfunden ist. Diese Sammlung war Benns erster Band; mit dem Gedichtzyklus wurde er über Nacht berühmt.
Zunächst war ich etwas erschrocken, als ich das schmale Liebhaberbändchen mit seinen gerade 32 Seiten in der Hand hielt: nämlich aufgrund der Schrift auf dem Cover, einer Fraktur. Sie wirken krude, aggressiv und zugleich verschroben, diese düsteren altmodischen Lettern im Prägedruck, mit dem Hautgout einer ziemlich anderen Welt (die zum Glück vergangen ist), und versetzten mein Empfinden sogleich in die Zeit des Dritten Reichs – weiß man doch, dass auch Gottfried Benn sich wenigstens in den Anfangsjahren den Nazis so gar nicht verweigert hatte. Diese waren freilich im März 1912 zum Erscheinen dieses Büchleins noch in weiter Ferne, doch ebendiese waren es viel später auch selbst, die im Januar 1941 wegen ihrer – wie es hieß – jüdischen Herkunft die Fraktur zugunsten der Antiqua als „unerwünscht“ deklarierten, einem Erlass Bormanns folgend. Insofern schlägt einem da etwas mit Wucht entgegen: Lettern, die etwas verkörpern, gefühltermaßen die ganze „braune Vergangenheit“ – zusammen mit all dem, was in jüngerer Zeit so hässlich auferstanden ist und was man im englischsprachigen Raum einmal das Wiedererwachen der Ugly Germans nannte. Populär sind in jüngster Zeit Fraktur-Logos nicht nur im Gothic-Lifestyle als okkultes Zierrat von beispielsweise Black Metal-Alben, sondern leider auch als rückwärtsgewandte Schriftzüge der Neonazis auf ihren schwarzweißroten Fahnen.
Hat man sich vom ersten Schrecken erholt, stellt man fest, dass es sich bei diesem Jubiläumsband weniger um die feist und „breit“ wirkenden Frakturtypen der NS-Zeit handelt, wie man sie aus Büchern kennt, die zwischen 1933 und 1941 erschienen sind, sondern um eine feinere, geschwungenere, die vor allem den Zahlen ein paar höchst elegante Schnörkel beifügt: so elegant waren die Nazis zu keiner Zeit.
Und somit ist das Ganze, ohne bislang auf den Inhalt eingegangen zu sein, zusammen mit den dunklen sepiafarbenen Zeichnungen Georg Baselitz’, auf seine ganz eigene Art und Weise schön. Fast möchte man mit Rilke sagen: Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Soviel also zur „Schönheit“ dieses Bändchens: Für bibliophile Leser in jedem Fall genau das Richtige und unbedingt zu erwerben.
Auf Gottfried Benn braucht man eigentlich nicht näher eingehen. Seine Morgue kann man – und muss man – unter Literaten als bekannt voraussetzen. Der Gedichtzyklus „gilt bis heute als Meilenstein moderner Lyrik. Die Bilder aus dem Leichenschauhaus und dem Sektionssaal riefen stürmische Proteste hervor“, verkündet das Nachwort. Die Texte gehen buchstäblich unter die Haut; sie schockieren, verstören und rühren damals wie heute an Tabus. Der Gedichtband Morgue erregte 1912 selbst in den für moderne Lyrik aufgeschlossenen Kreisen großes Aufsehen, da er die herkömmliche Vorstellung von Dichtung radikal in Frage stellte. Die Provokation liegt bis heute in der Banalität, mit der menschliche Existenz und körperlicher Verfall dargestellt werden. Benns Umgang mit Sprache ist neu und übt großen Einfluss auf die expressionistische Dichtung aus. Benns Gedichte sind lakonisch, schonungslos, kaltblütig – und dennoch von seltsamer, erbarmungsloser Schönheit; ein „knappes“ Mitfühlen ist trotz aller Derbheit darin. Man meint, „ganz nah dran“ zu sein, wie sich ein junger Arzt souverän durch seine Arbeitswelt bewegt.
„Pressen Sie, Frau! Verstehn Sie, ja?
Sie sind nicht zum Vergnügen da.
Ziehn Sie die Sache nicht in die Länge.
Kommt auch Kot bei dem Gedränge!
Sie sind nicht da, um auszuruhn.
Es kommt nicht selbst. Sie müssen was tun!“
Das lyrische Ich wirkt ein wenig abgestumpft vom Klinikalltag und dabei doch auch empfindungslos, wenn es ein weiteres Mal sieht, was es jeden Tag sieht. Es muss damit fertig werden. Es macht das Beste daraus. Es geht damit so gut wie möglich um. Das Unausweichliche muss getan werden: Diese Paradoxie, vielleicht auch innere Tragik, durchzieht Benns Texte. So heißt es im Gedicht Blinddarm:
Alles steht weiß und schnittbereit.
Die Messer dampfen. Der Bauch ist gepinselt.
Unter weißen Tüchern etwas, das winselt.
„Herr Geheimrat, es wäre soweit.“
Der erste Schnitt. Als schnitte man Brot.
„Klemmen her!“ Es spritzt was rot.
Tiefer. Die Muskeln: feucht, funkelnd, frisch.
Steht ein Strauß Rosen auf dem Tisch?