Morgue und andere Gedichte. Mit Zeichnungen von Georg Baselitz.

Gedichte

Autor:
Gottfried Benn
Besprechung:
Armin Steigenberger
 

Gedichte

Meilenstein moderner Lyrik. Zum 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung von "Morgue und andere Gedichte"

Wo man sich als Außenstehender vielleicht gerade anklagende, sehr feinfühlige und pietätvolle Gedichte erhoffen würde, will sagen anprangernde Texte eines Dichters gegen die Abgestumpftheit,gegen eine Verrohung im mitleidsvollen Empfinden, bleibt in Benns Texten kaum mehr als grobschlächtige, unverhohlene Härte. Die von Zynismus übrigens weit entfernt ist. Dabei ist das lyrische Ich ja keineswegs ohne Mitleid: er bedauert den Tod der kleinen Ratten, die sich am Blut der Leiche genährt hatten und näht mit Liebe eine dunkelhellila Aster unter die Haut des soeben obduzierten Bierfahrers. Und vermutlich ist man auf der richtigen Spur, wenn man weiß, dass der junge Benn, wie viele junge Intellektuelle seiner Generation, der „lebensbejahenden“ Philosophie Nietzsches zugeneigt war, die von einem verlangt, die Welt unbedingt anzunehmen, wie sie ist.

Gottfried Benn, 1886 in Mansfeld geboren, studierte ab 1905 Medizin an der Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen in Berlin. Er wurde Assistent in der Pathologie der Westend-Klinik am Spandauer Damm in Berlin-Charlottenburg und eignete sich dort über einer Vielzahl von Obduktionen das Anfertigen präziser Beschreibungen medizinischer Fälle an. Ende 1913 übernimmt er die Leitung des Gynäkologischen Krankenhauses Charlottenburg, wo er auf eigenen Wunsch 1914 wieder ausscheidet. Seine Erfahrungen als Arzt fließen unmittelbar in die Gedichte des Morgue-Zyklus. Aus dem Text Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke:

 

Der Mann:

Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße

Und diese Reihe ist zerfallene Brust.

Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

 

Und doch. Es geht in der Morgue auch um einen Blick, der aus heutiger Sicht von Rassismus nicht frei ist; auch das ist dem Zeitgeist und dem nationalistischen Denken, wie es seit dem Kolonialismus im 19. Jh. zunehmend aufflammte, geschuldet. Die Ratten, die man ertränken muss, erinnern an spätere NS-Propagandafilme zum „parasitischen“ Treiben „niederer“ Völker; der „Nigger“ im Text Negerbraut lassen als nonchalant verwendeten Ausdruck heute ebenso tief blicken; es finden sich die „typischen“ Zuschreibungen: Der bohrte zwei Zehen seines schmutzigen linken Fußes / ins Innre ihres kleinen weißen Ohrs. Hätte ich den Zyklus nicht gekannt, wäre ich beim Lesen spätestens hier das zweite Mal erschrocken. Kein Wunder, dass die Gedichte Kleine Aster und Schöne Jugend heute überall abgedruckt sind, während der Text Negerbraut von der Bildfläche ebenso fast verschwunden ist wie z. B. die ein oder andere offen antisemitische Bildergeschichte Wilhelm Buschs.

Gottfried Benns Verhältnis zum Nationalsozialismus ist vielschichtig. Hatte ihn schon der italienische Faschismus angezogen, näherte er sich recht unreflektiert dem Nationalsozialismus an. Anfangs huldigte er mit Schriften wie Der neue Staat und die Intellektuellen (1933) dem neuen Regime und verfasste als Nachfolger Heinrich Manns und kommissarischer Vorsitzender der „Sektion“ eine Loyalitätsbekundung für Hitler, die ihren Mitgliedern eine nicht NS-konforme politische Betätigung verbot. Benn verteidigte in seiner Schrift Expressionismus die Kunstbewegung gegen nationalsozialistische Angriffe. Und obwohl er 1933 er bereits Zweifel hegte, distanzierte er sich erst ab 1934 immer weiter vom Nationalsozialismus, wurde aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und ab 1937 mit einem Schreibverbot belegt. In den letzten Jahren war Benn als Militärarzt tätig, in einer – wie er sich ausdrückte – „aristokratischen Form der Emigration“.

Benns Gedichte werden kontrastiert von Zeichnungen Georg Baselitz’. Dessen „Werke entsprachen zu Beginn seiner Karriere ebenfalls nicht den gesellschaftlichen Werten und Normen. Seine pandämonischen Bilder lösten 1963 während seiner ersten Einzelausstellung in Berlin einen Skandal aus und wurden beschlagnahmt. Er war damals im selben Alter wie Gottfried Benn, als der seine Morgue-Gedichte schrieb.“, erfahren wir im Nachwort. So stellen die halbabstrakten Tuschezeichnungen von 1963, wenn man genau hinsieht, menschliche Körper oder Körperteile dar. Ein übermaltes Kreuz in dunklen Schwarz- und Brauntönen, verstümmelte Gliedmaßen, „Anamorphosen“ und Diffus-Menschliches, düster rumorend, wimmeln auf den Blättern. Das Bild, das 1963 das Establishment schockierte, ist in der Sammlung jedoch nicht enthalten: Die große Nacht im Eimer, in der Beschreibung des Kunsthistorikers Klaus GallwitzDie Gestalt, die vom Körperbau an einen Jungen erinnert, steht mit gespreizten Beinen da und hält mit der linken Hand einen überdimensionierten Phallus. Sie schaut am Betrachter vorbei.

Nach der NS-Zeit entstanden erst 1948 wieder Gedichte von Gottfried Benn. Seine Gedichtbände „Statische Gedichte“ (1948), „Trunkene Flut“ (1949), „Fragmente“ (1951), „Destillationen“(1953) und „Aprèslude“ (1955) zählen zur hermetischen Lyrik und sollen von T. S. Eliot und W. H. Auden beeinflusst sein. Benn veröffentlichte auch einige kritische Essays wie „Das moderne Ich“ (1919), „Nach dem Nihilismus“ (1932) und „Ausdruckswelt“(1949). Seine Autobiographie „Doppelleben“ erschien 1950. Er starb 1956 in Berlin.

Die recht preiswerte Broschüre wurde jüngst ausgezeichnet von der Stiftung Buchkunst als eines der 25 schönsten Bücher des Jahres. Man kann Klett-Cotta zu diesem mutigen Bändchen nur gratulieren.


Exklusivbeitrag

Gottfried Benn: Morgue und andere Gedichte. Mit Zeichnungen von Georg Baselitz, Klappenbroschur, 32 Seiten, 10,00 Euro, ISBN: 978-3-608-93941-5, Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 2. Aufl. 2012

zurück