Matrix 2/2012/28

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Autor:
Hrsg: Traian Popp
Besprechung:
Christine Kappe
 

Zeitschrift für Literatur und Kunst

»Atomatisiert mitten im Satzgebilde« ∙ Wi(e)der sprechen können. Matrix 28. Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker

04.07.2012 | Hamburg

Flaschenbürste ∙ Gemüsebrühe ∙ Brillenputztücher

Und so kam Matrix 28. Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker ins Haus: herausgefallen aus dem Briefkasten, weil vielwiegend und in glatte Folie eingeschweißt. Hatte nun ungelesen gleich ein Eselsohr wie nach 50 Lesejahren. Gut. So brauchte ich nicht mehr zimperlich sein, und meine Matrix kam unters Kopfkissen sowie unter die Kaffeetasse und unter die Linden, mit einem Einkaufszettel als Lesezeichen (»Flaschenbürste, Gemüsebrühe, Brillenputztücher«). Solche Bücher müssen sich, schließlich können sie, bei näherem Betrachten, dem Inhalt nur so entsprechen, verformen und transponieren dürfen. – – – Die Lektüre wirkt befreiend, erhellend, beunruhigend. Endlich fühl ich mich wieder in einem Buch ›zuhause‹, in einem ›Fachwerkbuch‹. Traian Pop, Verleger des Ludwigsburger Pop Verlags und Herausgeber der Literaturzeitschrift Matrix, gab Theo Breuer freie Hand für eine FM-Sonderausgabe. Mr. Workbench, so möchte ich ihn nennen, schafft es, dass 81 Autoren und Künstler sich aufsternen zu Thema, Person, Faszination Friederike Mayröcker, incl. sie selbst, atomatisiert mitten im Satzgebilde.


Mischung

Fang ich am Anfang an? Nein, ich fang mit Seite 216 an, mit dem Bild eines toten Kaninchens. Im Garten liegt eine tote Taube heut – sieht aus, als ob sie noch lebt – und entfacht Fragen bei uns Vieren: »Woran ist sie gestorben?« ∙ »Der Nachbarsjunge wollte sie töten und die Eier aus dem Nest klauen« ∙ »Wohin sollen wir sie tun?« ∙ »Sie muss weg, ihr Kinder werdet sie anfassen und krank werden« ∙ »Wir müssen sie begraben, man kann doch so ein Tier nicht in den Müll werfen« ∙ »Das gibt bestimmt Ärger mit der Hausverwaltung« ∙ »Dem Hauswart Bescheid sagen?« ∙ »Mensch, den hatte ich vorhin an der Tür, der hatte seinen Koffer heute früh auf der Mauer vor unserm Fenster stehen lassen und das erst auf der Autobahn gemerkt, war noch mal umgekehrt und fragte, ob wir jemanden gesehen hätten, der Koffer sei weg, und ich sagte: ›Nein, aber normalerweise nehmen doch die Leute das Zeugs mit, zerfleddern alles und schmeißen, was nicht Geld ist, ein paar Meter weiter in die Büsche‹.« … Und als wir endlich in den Garten gehen, ist eben das mit der Taube passiert: blutig, zerfetzt. Jetzt fällt die Entscheidung leichter: Mit Einmalhandschuhen legen wir sie und die Federn in einen Müllbeutel und draußen in die Tonne. Und machen ihr trotzdem ein Grab mit Blumen. Aber diese Mischung: die Besorgnis um die Kinder mit der Besorgnis um die Taube; zwei einander bedingende Widersprüche, zwei einander widersprechende Dinge.

 

Hand und Fuß

Beame mich ins Vorwort, in den Vorort dieser Text-Stadt, wo Theo Breuer Mayröckers Gedicht Tiergarten Berlin ca. ’71, für Ernst Jandl zitiert. (Nun will ich diesem Essay rückwirkend den Titel WI(E)DER SPRECHEN KÖNNEN geben, denn nach jahrelangem Irrglauben, ich bräuchte zum Schreiben ein Konzept, beginne ich zu ahnen: Ich brauche Herz und Verstand, Hand und Fuß, Nadel und Faden.) In diesem ›wunderbaren‹ Gedicht entsteht durch Reibung der Wörter ›Lassen‹ und ›Fassen‹, nämlich: Lass ihn (den Hasen, du könntest krank werden) und fass ihn (den Hasen, und beschütze ihn), ein Gänsehaut erzeugender Ton. Wie das aushalten?! Wie Liebe aushalten?

 

Setzkästchen

»Schonn klar« (Floskel der Kinder): Das wird nicht (auf)geklärt, so, wie der Tod nicht aufgeklärt wird. Aber ich muss weiterlesen. Um irgendwann wieder beim Hasen anzukommen (und darüber hinaus). Um zwischen Gedichten, Briefen, Filmen, Erinnerungen, Bildern, Interviews, Gedanken, Erzählungen, Begegnungen und Collagen beispielsweise einen Wecker zu finden, mit mayröckerscher Zeit, die den einen Flügel in die Vergangenheit, den anderen in die Zukunft spannt. Schnell werde ich in diese Texte und Bilder hineingesogen, doch langsam will ich sie ›lesen‹, will sie fühlen, ihnen nachsinnen. Zwei Räume stehen einander bei Friederike Mayröcker gegenüber, die ich frei ›die große Schachtel des Todes‹ (der große Stachel des Todes) und ›die Schriftstille‹ (und hätte ich dieses mein Schreiben nicht) nennen will.

 

Weiße Würmer

Tod: ein Thema, an dem sich Friederike Mayröcker abarbeitet (in Anlehnung in Ablebung), Tod, der wie die Nacht ein Zurückstürzen ins Chaos ist? Nein, schlimmer: ein Für-immer-einsortiert-Werden, in eine Schachtel, in ein Setzkästchen, ins absolute Dunkel. Das Schreiben als Auflehnung dagegen, und gegen den Zahn der Zeit, und gegen den Nerv der Zeit, und gegen die Sprache der Zeit: die Schriftstille, ein Ort, von dem aus alles möglich ist. Eine notwendige Absolutheit. Auch der blaue Mond gehört dazu. Wie alles Neue ist sie zart brutal, muss dicke Mauern haben, sonst fliegt sie nicht ... ... Sie muss anders heißen. Gefahr irreführender Assoziationen. Da sind nämlich kaum Wörter drin. Das Wort ›Schnee‹ z.B. wird gleich nach Gebrauch wieder gestrichen, um transformiert zu werden, erweist sich beim genauen Hingucken als Ansammlung weißer Würmer. Ist das nicht gefährlich, frage mich. Nein, wir essen es ja nicht, da Getreide in Getreidesilos lagert, in denen es nicht schneit.

 

Dornheim ∙ Kornappel ∙ Streeruwitz

Die Aufzählung der gelesenen FM-Buchtitel (von Theo Breuer dreimal wiederholt) wirkt wie ein Gedicht, die Aufzählung der Autoren des Bandes nicht minder: Ilse Aichinger ∙ Dato Barbakadse ∙ Maja-Maria Becker ∙ Hans Bender ∙ Theo Breuer ∙ Andrea Brincker ∙ Peter Clar ∙ Crauss. ∙ Michael Donhauser ∙ Richard Dove ∙ Jutta Dornheim ∙ Ulrike Draesner ∙ Elke Erb ∙ Susanne Eules ∙ Christel Fallenstein ∙ Matthias Fallenstein ∙ Marcell Feldberg ∙ Ingrid Fichtner ∙ Johannes CS Frank ∙ Zsuzsanna Gahse ∙ Chana Galvagni ∙ Andrea Grill ∙ Karl-Friedrich Hacker ∙ Bernadette Haller ∙ Michael Hammerschmid ∙ Bodo Hell ∙ Friedrich Hölderlin ∙ Semier Insayif ∙ Gerhard Jaschke ∙ Katharina Kaps ∙ Udo Kawasser ∙ Odile Kennel ∙ Marie-Thérèse Kerschbaumer ∙ Ilse Kilic ∙ Claudia Klučarić ∙ Sirkka Knuuttila ∙ Simone Kornappel ∙ Axel Kutsch ∙ Augusta Laar ∙ Alma Larsen ∙ Aurélie Le Née ∙ Michael Lentz ∙ Swantje Lichtenstein ∙ Silke Markefka ∙ Friederike Mayröcker ∙ Novalis ∙ José F. A. Oliver ∙ Elisabeth Pein ∙ Kevin Perryman ∙ Peter Pessl ∙ Judith Nika Pfeifer ∙ Marion Poschmann ∙ Andreas Quirinus-Born ∙ Ilma Rakusa ∙ Sophie Reyer ∙ Francisca Ricinski ∙ Elisabeth von Samsonow ∙ Julia Schiff ∙ Matthias Schmidt ∙ Norbert Schneider ∙ Vroni Schwegler ∙ Jan Skudlarek ∙ Marion Steinfellner ∙ Ginka Steinwachs ∙ Marlene Streeruwitz ∙ Ulrich Tarlatt ∙ Yoko Tawada ∙ Liesl Ujvary ∙ Anja Utler ∙ Anatol Vitouch ∙ Mikael Vogel ∙ Nikolai Vogel ∙ Jürgen Völkert-Marten ∙ Linde Waber ∙ Peter Weibel ∙ A. J. Weigoni ∙ Fritz Widhalm ∙ Herbert J. Wimmer ∙ Gisela von Wysocki ∙ Berto Xenien-Heuer ∙ Barbara Yurtdas ∙ Christiane Zintzen

 

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