Matrix 2/2012/28

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Autor:
Hrsg: Traian Popp
Besprechung:
Christine Kappe
 

Zeitschrift für Literatur und Kunst

»Atomatisiert mitten im Satzgebilde« ∙ Wi(e)der sprechen können. Matrix 28. Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker

Atmendes Alphabet, exemplarisch

Unter dem starken Eindruck von Vielfalt und Vielschichtigkeit der unterschiedlichsten Beiträge folge ich, exemplarisch, sicherlich ganz im Sinne Friederike Mayröckers, dem unchronologischen Muster der Erinnerung:

Das Fremdeste zuerst: Sirkka Knuuttila, finnische Literaturwissenschaftlerin, referiert über das Abenteuer, Mayröcker zu übersetzen. Zirren (Wolken) nein Zirben (Bäume) auf Finnisch? Wenn ›Zirben‹ dort gar nicht vorkommen, die finnischen Wörter anders aussehen, klingen, die Wortfelder anderes enthalten? Über die Erfahrungen beim Zeichnen lebender Modelle kommt Knuuttila auf das Bild der kommunizierenden Gefäße, Röhrchen, die unten miteinander verbunden sind und in denen eine Flüssigkeit gleich hoch steht (Thema wiederum auch bei FM). Hier tauscht sich Verschiedenes auf Augenhöhe aus, wechselt die Perspektive, z.B. ›Amsel‹ und ›Mensch‹, ›Schlaf‹ und ›Tod‹. Das funktioniert mit einer geradezu physikalischen Notwendigkeit. Und dies ist die Reise, auf die sich die Übersetzerin einlässt, wenn sie mit den von ihr gewählten Wörtern eine vergleichbare Wirkung beim Leser erzielen will wie der Originaltext, wenn sie das mayröckersche Mitgefühl für die Tier- und Pflanzenwelt erwecken will.

Bei Theo Breuer, der geheimen Kraft, die das 259 Seiten umfassende Textfeuer angefacht hat, tauchen wir in ein atmendes Alphabet, in dem Wörter, Satzteile, Bruch- und Fundstücke von Mayröcker und Breuer ineinanderfließen. Ein riesiges ABCDiarium, abgeschrieben, neu erfunden, das die wesentlichen Themen der FM aufscheinen, schneien lässt, ist mehr ein Lobgesang, ein Nachfahren im Nachtzug (ein Aufwachen gibt es frühestens auf S. 259), ein Erklären, warum wenig (nichts?) so mitreißend ist wie das Werk von Friederike Mayröcker, Michael Lentz zitierend: ich bin wieder mittendrin, ich höre nicht auf – ›ganz Lesezeichen‹ möchte ich ergänzen.

Mein Erinnerungszeichen steckt jetzt allerdings zwischen Jutta Dornheim und Michael Donhauser. Dornheim lässt mich ein Gespräch zweier Freundinnen erleben, zwei unterschiedliche Ansichten von ›experimenteller‹ Lyrik, mit ihnen bin ich anwesend bei der Preisvergabe des Bremer Literaturpreises 2011 in Abwesenheit der ausgezeichneten Autorin.

Michael Donhauser donhaust trunken im Dickicht zwischen sinkt und sänke. Bei der Lektüre dieser lyrischen Prosa halte ich den Atem an, verlier jede Vorstellung von Zeit, rieche im Juni den Herbst und höre Stille, vollkommene Stille, wo doch tausend und eine Naturerscheinung sich unaufhörlich verzetteln.

Schon lande ich in Ulrich Tarlatts Gestrüpp auf dem Gartentisch und Frau Noah (...) im kurzen Hemd, plastische Zeichnungen, aus denen mich Wesen aus einer anderen Zeit anblicken, aus einer Welt hinter der Welt, wo auch Yoko Tawadas Nordsee-Pinsel beheimatet ist und May mit Ypsilon schreibt und Ilma Rakusa einsilbigen Schnee siebt (wie viele Wörter haben die Eskimos für ›Schnee‹? Rakusas Ansichten von Schnee sind nicht weniger an der Zahl ... Ich fühle Frösteln mitten im Sommer und möchte, wie Axel Kutsch, knallhart umarmt werden, eine Schnellaufwärmung, doch der zitiert schon wieder Schnee, Schneewächten, im Gedicht Über das Küssen, als Norddeutsche muss ich da erst mal nachlesen, dass das Schneeverwehungen auf Bergkämmen sind, mit einem Überhang auf die windabgewandte Seite, dass die abbrechen können, wenn ich mich darauf begebe und also in den Tod stürze, dass im Österreichischen aber auch ganz allgemein Schneeverwehungen damit bezeichnet werden, solche, die nicht abbrechen, puh, das durch eine Wäscheklammer (Kluppe) inspirierte Gedicht hat allerdings die Sollbruchstelle gerade bei diesem Wort.

Wo wir gerade bei Kluppen sind, Zirren, Zirben, Zirpen, Sophie Reyer lässt es zirpen, klettert am und hinunter in die Vergangenheit, findet die Zeit gehörig, ihr zugehörig, nicht gezippt und kompakt, sondern gezirpt: geatmet, riesenhaft, wiesenhaft. Kevin Perrymans Vorstellung von Flieder (Flieder in Wien, von und für), der sich in der Zeit spiegelt ... aber das ist doch ein Flederbäumchen, von Traumtieren umstellt. Christiane Zintzen nimmt FMs Zeichnung von einem Hündchen zum Anlass, ihr ein Gedicht zu schreiben, apropos Hund: Manche Gedichte beißen, so Peter Pessls, beißen sich ins Ohr, und in die Seele, mit der Bisswunde Sprache ..., suche ein Gegenmittel, am besten homöopathisch, Ledum?, 4x5 Kügelchen, 4? Das vierbeinige m von Karl-Friedrich Hacker geistert durch den Kopf, und nach der Lektüre von Bernadette Hallers Haiku frage ich mich ernsthaft, woraus Schmetterlinge bestehen, ob tatsächlich Blut in ihnen fließt, sie essen doch nichts, Marcell Feldberg schreibt direkt in den Himmel, weil da so viel Platz ist, José F. A. Oliver über ein Gespräch mit Friederike Mayröcker, in dem so viel Platz ist, fürs Fliegen, fürs Alter, für Zärtlichkeiten, für verschwundene Bücher, krächzende Kränze bindet Katharina Kaps, pass auf, Blumen können giftig sein, Peter Clar, diese Magnolien, meistens aber nur die mit ›y‹, Novalis weiß es, und Johannes CS Frank auf Englisch, a child’s delight / confined silence

Und mittendrin Friederike Mayröcker mit 14 scheu-schönen Gedichten, Flug oder Flucht? Lebens-Übungen. Flur oder Flur? Wort-Übungen (»études«). Den Tag zu tragen. Was soll man anziehen gegen die kalten und warmen Schauer, die das auslöst? Das sind nicht nur Blüten, Gestammel des Stieglitz, Fauré im Farnkraut. (Höre mich laut lesen.) Keine Buchstaben, NOTEN, im Rhythmus des All-Tags. Vielleicht 1 wenig die Schönheit brechen dasz eine tiefere Schönheit erblüht.

 

Ein Wecker ∙ Und Schluss

Das tote Kaninchen, nicht zu vergessen, ist ein Bild von Vroni Schwegler – und jetzt haben wir Ameisen in der Küche, ein ganzes Alphabet, nein, ich kann sie nicht töten, das schaffe ich nicht, ich schaffe alles von ihnen Okkupierte MIT IHNEN in den Garten, ich weite den Arbeitsplatz in die Küche aus, da ist jetzt Platz, ich denke an Liesl Ujvarys vielfarbige FotografieArbeitsplatz von FM, dieses Zettelgebirge mit Schreibmaschine und Käsebrötchen, und denke an die Lektüre der Kinder: Elle von Lieshouts & Erik van Os’Der König von Wenig, der sein Leben im Schloss aufgegeben hat und nun mit Kaninchen, Veilchen und Käsebrötchen auf dem bröckligen Balkon eines Mietshauses sitzt und glücklich ist, ein Gebirge aus Steinen mit weißer Farbe angemalt, ein Wecker, und noch ein Wecker, vielleicht der, der Marion Poschmann erschreckt ... und mich daran erinnert, dass dieser Essay fertig werden muss. Obwohl gerade ein Essay wie dieser gar nicht ›fertig‹ werden kann und dass das vielleicht das Gerechteste ist: Mit dem Klingeln ist eben Schluss.

 


Originalbeitrag

Matrix 28. Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker, mit Bild- und Wortbeiträgen von Friederike Mayröcker im Verbund mit 81 Autoren und Künstlern, ediert von Theo Breuer, herausgegeben von Traian Pop, 294 Seiten, Pop Verlag, Ludwigsburg 2012.

zurück