Bis ich dies alles liebte

Neue Heimatgedichte

Autor:
Norbert Scheuer
Besprechung:
Jürgen Brôcan
 

Neue Heimatgedichte

Dorf mit skizzierter Landschaft: Norbert Scheuer schreibt Heimatgedichte

19.07.2012 | Hamburg

Man kann es nicht leugnen, der Untertitel von Norbert Scheuers Gedichtsammlung ist durchaus provokant: „Neue Heimatgedichte“. Ob es sich dabei um das Aufgreifen einer Tradition unter anderen, modernen Vorzeichen — „make it new“ — oder tatsächlich um eine bewußte Provokation handelt, bleibt zunächst offen. Der Umgang mit Begriffen wie Heimat ist jedenfalls leider, in überschnell verdächtigender Weise, noch immer irrational
besetzt, deshalb muß man Scheuer für ihre Rehabilitierung dankbar sein. Denn bereits ein kurzer Blick in das Buch enthebt es jeder Verdächtigung.

Norbert Scheuer liebt die Landschaft, er liebt das Dorf. Es ist manchmal eine schwer errungene, mühsam erarbeitete Liebe: „wenn ich zu den Sternen sah / wusste ich nie / ob ich fortgehen oder bleiben sollte / es dauerte / bis ich dies alles liebte“. In Genrebildern wird ein Zustand festgehalten, eine Szene mit groben aber dennoch kunstvoll geführten Pinselstrichen skizziert. Da sind der Dorfrand, die Kirmes, die Gastwirtschaft. Da sind die Dorfbewohner mit ihren Gedanken, Erinnerungen, Sorgen, Tätigkeiten. Jedes Gedicht ist wie eine Photographie, über die es einmal heißt, man sehe auf sie „mit der Lupe / wie in einer Chronik“.

Auch wenn ein melancholisches Bedauern sich wie ein feiner Landregen über die Gedichte legt, vor allem dann, wenn an die Menschen und ihre Geschichte, ihre Geschichten erinnert wird, bleiben Scheuers Gedichte erfreulich unsentimental. Die Nachbarin der Schönheit ist nämlich die Schrecknis: „Kühe mit Wimpern / wie von indischen Tänzerinnen / die Markierung / der Bolzen auf der Stirn“. Heimat zu haben bedeutet, ständig nach Orientierung zu suchen, aber auch „nie mehr wünschen / als man vom Leben erfüllt bekommt“. Deshalb wird das Gelände mit allerhand sorgsam aufgezählten Einzelbeobachtungen abgesteckt, jede für sich ein Kleinod. Heimat, auch das wird klar, ist ein unsicheres, zerbrechliches Gebilde in der Zeit. Sie ist vollgepfropft mit Historie, und die macht Scheuer qua Benennung durchlässig.

Es gibt in den Gedichten zwei gegensätzliche Aspekte. Einmal das additive und fast schon dokumentarische Festhalten von Einzelheiten, Augenblicken, und dann als gegenläufige Suchbewegung, die sich in der mäandernden Form der Gedichte wiederspiegelt, das Fortstrebende, die Dorfstraßen, die „vorbeifahrende Züge Richtung Stadt“, der Gang zur Arbeit. Und weil Scheuer diese Einzelheiten immer wieder geschickt ins Ensemble einbindet, kommt selbst dann kein Monotonie auf, wenn das reflektierende Moment zurücktritt. Die Dinge sprechen für sich selbst. Und Scheuer hört in aller Ruhe zu und gibt ihnen den nötigen Raum.


Exklusivbeitrag

Norbert Scheuer: Bis ich dies alles liebte. Neue Heimatgedichte. Gebunden, 102 S., 14.95 Euro, ISBN 978-2-406-62172-7. C.H. Beck, München 2011. Auch als e-book erhältlich