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Roman
Nina Bußmann schreibt eine Versuchsanordnung zur Frage, wie man geworden ist, was man ist.
02.09.2012 | Hamburg
Viel ist über Nina Bußmanns Debüt „Große Ferien“ geschrieben worden. Ausschließlich Lobendes. Die frappierende Ähnlichkeit ihres Romans mit demjenigen von Judith Schalansky „Der Hals der Giraffe“ ist ein unglücklicher Zufall, der dafür gesorgt hat, dass Bußmanns Roman erst in diesem Jahr erscheinen konnte.
Ebenso wie Schalanskys Roman geht es bei Bußmann um einen eigenbrötlerischen Lehrer, dessen Leben durch die Beziehung zu einem seiner Schüler in Unordnung gerät. Schramm, Physik- und Mathematiklehrer, der nach den großen Ferien nicht in den Schulbetrieb zurückkehren wird, bemüht sich den gesamten Roman lang um Ordnung in seinem Garten. Unkrautjätend wird er dem Leser vorgestellt. „Wir ordnens, damits zerfällt, damit wirs wieder ordnen und so fort... Das klingt traurig, doch ist es auch schön, und es darf für niemanden eine Ausrede sein.“ Getreu dieser Aussage, bemüht sich Schramm 200 Seiten lang, das Unkraut zu vernichten, das in der Einfahrt zu seinem Haus und das in seinem Kopf. Unermüdlich, wie sein Kampf gegen das Unkraut ist Schramms Versuch, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Und ebenso vergeblich. Dabei kann man nicht einmal behaupten, dass ihm der Zweifel als Schutzschild dient. „Wir wissen nicht, was der andere denkt. Häufig wissen Menschen nicht einmal, was sie selber denken. (…) Und im Reden ändert einer nichts daran, im Reden ändern auch zwei in Einigkeit nichts daran.“ Dennoch versucht Schramm immer wieder, sich und die Umstände zu erklären, bei der Polizei, gegenüber der Mutter, oder mit seinem Bruder, dessen Besuch er erwartet. Immer wieder ist dieser Impuls da, etwas zu klären, eine Wahrheit zu finden, eine Ordnung, die nicht mehr bezweifelt werden muss. Aber jeder Versuch schlägt fehlt. Oft genug bereits im Vorfeld. Was bleibt sind unbeholfene Rechtfertigungen, ein seltsam verzweifelter Glaube an die Alleinverantwortlichkeit des Einzelnen.
Waidschmidt, der Schüler, der Schramms Leben dermaßen in Unordnung gebracht hat, dass dieser den Entschluss gefasst hat, nicht wieder an die Schule zurückzukehren, ist ein intelligenter junger Mann aus Kirgisien, ein Außenseiter wie Schramm, der kurz vor dem Abitur einen Zusammenbruch erleidet. Was Schramm damit zu tun, erfährt der Leser nicht zweifelsfrei. Wir erfahren, dass Waidtschmidt zunächst Schramms Nähe gesucht und ihn später verraten hat. Dass Schramm schließlich die Hand gegen ihn erhob, aber nicht, ob er wirklich zugeschlagen hat. Vermutung reiht sich an Andeutung. Man bekommt weder Schramm noch die Geschichte zu fassen. Wie das Springkraut aus Sibirien, das Rühr-mich-nicht-an genannt wird, ergeht es Schramm mit seinen vergeblichen Versuchen, Erklärungen zu finden, wo sich kein intuitives Verständnis, wo sich keine Fraglosigkeit einstellt, sondern immer wieder der Zweifel. Der Zweifel ist in diesem Debüt Erzählprinzip. „Große Ferien von Ursache und Wirkung, Trauma und Folgen“, schreibt Hubert Winkels.
So bleiben dem Lehrer Schramm für das für ihm unerklärliche Verhalten Waidschmidts lediglich technische Erklärungen. „Es war nicht gesund. Wenn man sich darauf einließ, nahm es kein Ende, auf jede Gegenfrage hatte Waidschmidt eine Erwiderung und auf die darauf folgende wieder eine, weil die Schaltkreise zu rasch zuschnappten in seinem Kopf, rascher als er selbst verstand.“
Wie ein Ertrinkender hält Schramm an der Rationalität fest. „Oft denke ich mir, wenn es wahren Terror gibt, dann ist es der Terror der Vernunft. Die schönsten Früchte der Phantasie lässt die verfluchte Vernunft nicht reifen...“, sagt der alte Held in Marjana Gaponenkos jüngstem Roman. Schramm, so scheint es, ist ein wahres Opfer dieses Terrors. Schramm rationalisiert die Übergriffe, Quälereien der Kinder (Waidschmidt wurde während der Zeit an Schramms Gymnasium Opfer einer Cyber-Mobbing Aktion), nimmt sie ebenso wenig ernst, wie Verleumdungen, die ihn selbst betreffen. Er betrachtet ein derartiges Verhalten als immer schon dagewesenen, quasi natürlichen Ablauf.
Dabei gibt es oft genug Szenen, die beschreiben, wie einer für den anderen zu sorgen versucht, Schramm für seine Mutter, der Bruder für Schramm, aber diese Fürsorge geschieht nie nach den Bedürfnissen dessen, dem geholfen werden soll, weil hinter den eigenen Vorstellungen, der eigenen unhinterfragten Moral, kein Raum ist für ein Erkennen des anderen. Diese Mauer, die ein Miteinander unmöglich macht, macht Nina Bußmann spürbar. Schramms wuchernde und einander gegenseitig auslöschende Gedanken, illustrieren überzeugend, wie einer in sich selbst gefangen bleibt, weil der Versuch den anderen zu begreifen, fortwährend misslingt. Zu eng sind die Grenzen des Ich, zu groß die Angst, darüber hinaus zu gehen. Denn Grenzen sind immer auch Schutz. Das zweifelt dieser Roman nicht an, und sucht auch keine Lösung. Vielmehr wird hier ein Experiment aufgebaut und durchgeführt. Das Labor: der begrenzte Raum von Schramms Haus und Garten und der unermessliche Raum in Schramms Kopf, in dem der Zweifel immer von neuem Unordnung stiftet. Eine Versuchsanordnung zu der Frage, wie man geworden ist, was man ist. Schramms Gedanken folgend, mäandert die Geschichte, keine Aussage bleibt unbezweifelt, nichts, das nicht relativiert wird.
„So wie die Geschichte und in der Geschichte er gesehen wurde, wusste er jedenfalls, war es nicht gewesen: Wem bereitet solches Wissen nicht Vergnügen, einen stillen Triumph.“
Diesen Triumph kostet Nina Bußmann aus. Das Ergebnis ist ein handwerklich sehr gut gemachter Roman, dem eine klare Fragestellung zugrunde liegt und dessen Figuren das Personal für eine Versuchsanordnung bereitstellen. Solche Prosa feiert derzeit Triumphe im deutschen Feuilleton, Wurzeln im Kopf des Lesers schlägt sie nicht.
Exklusivbeitrag
Nina Bußmann: „Große Ferien“. Roman 17,95 Euro ISBN 978-3-518-42278-6 Suhrkamp Verlag Berlin 2012